$V00 C 3 L 1 Die geburt der tragoedie. oder griechenthum und pessimismus. $V00 C 5 L 1 6 versuch einer selbstkritik. / 7 was auch diesem fragwuerdigen buche zu grunde liegen mag: / 8 es muss eine frage ersten ranges und reizes gewesen sein, noch / 9 dazu eine tief persoenliche frage zeugniss dafuer ist die zeit, / 10 in der es entstand, trotz der es entstand, die aufregende zeit / 11 des deutsch franzoesischen krieges von 1870-1871. waehrend die / 12 donner der schlacht von woerth ueber europa weggiengen, sass / 13 der gruebler und raethselfreund, dem die uaterschaft dieses / 14 buches zu theil ward, irgendwo in einem winkel der alpen, sehr / 15 vergruebelt und verraethselt, folglich sehr bekuemmert und unbekuemmert / 16 zugleich, und schrieb seine gedanken ueber die griechen / 17 nieder, den kern des wunderlichen und schlecht zugaenglichen / 18 buches, dem diese spaete vorrede (oder nachrede) gewidmet / 19 sein soll. einige wochen darauf: und er befand sich selbst / 20 unter den mavern von metz, immer noch nicht losgekommen von / 21 den fragezeichen, die er zur vorgeblichen "heiterkeit" der griechen / 22 und der griechischen kunst gesetzt hatte; bis er endlich, in / 23 jenem monat tiefster spannung, als man in versailles ueber den / 24 frieden berieth, auch mit sich zum frieden kam und, langsam / 25 von einer aus dem felde heimgebrachten krankheit genesend, die / 26 "gebut der tragoedie aus dem geiste der musik" letztgueltig / 27 $V00 C 6 L 1 28 bei sich feststellte. aus der musik? musik und tragoedie? griechen / 29 und tragoedien musik? griechen und das kunstwerk des / 30 pessimismus? die wohlgerathenste, schoenste, bestbeneidete, zum / 31 leben verfuehrendste art der bisherigen menschen, die griechen / 32 wie? gerade sie hatten die tragoedie noethig? mehr / 33 noch die kunst? wozu griechische kunst?. / 34 man erraeth, an welche stelle hiermit das grosse fragezeichen / 35 vom werth des daseins gesetzt war. ist pessimismus nothwendig / 36 das zeichen des niedergangs, verfalls, des missrathenseins, / 37 der ermuedeten und geschwaechten instinkte? wie er es bei / 38 den indern war, wie er es, allem anschein nach, bei uns, den "modernen" / 39 menschen und europaeern ist? giebt es einen pessimismus / 40 der staerke? eine intellektuelle vorneigung fuer das harte, / 41 schaverliche, boese, problematische des daseins aus wohlsein, aus / 42 ueberstroemender gesundheit, aus fuelle des daseins? giebt es / 43 uielleicht ein leiden an der ueberfuelle selbst? eine versucherische / 44 tapferkeit des schaerfsten blicks, die nach dem furchtbaren verlangt, / 45 als nach dem feinde, dem wuerdigen feinde, an dem sie / 46 ihre kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was "das / 47 fuerchten" ist? was bedeutet, gerade bei den griechen der besten, / 48 staerksten, tapfersten zeit, der tragische mythus? und das / 49 ungeheure phaenomen des dyonischen? was, aus ihm geboren, / 50 die tragoedie? und wiederum: das, woran die tragoedie starb, / 51 der sokratismus der moral, die dialektik, genuegsamkeit und / 52 heiterkeit des theoretischen menschen wie? koennte nicht gerade / 53 dieser sokratismus ein zeichen des niedergangs, der ermuedung, / 54 erkrankung, der anarchisch sich loesenden instinkte / 55 sein? und die "griechische heiterkeit" des spaeteren griechenthums / 56 nur eine abendroethe? der epikurische wille gegen den / 57 pessimismus nur eine vorsicht des leidenden? und die wissenschaft / 58 selbst, unsere wissenschaft ja, was bedeutet ueberhaupt, / 59 als sympton des lebens angesehn, alle wissenschaft? wozu, / 60 schlimmer noch, woher alle wissenschaft? wie? ist wissenschaftlichkeit / 61 uielleicht nur eine furcht und ausflucht vor dem / 62 $V00 C 7 L 1 63 pessimismus? eine feine notwehr gegen die wahrheit? / 64 und, moralisch geredet, etwas wie feig- und falschheit? unmoralisch / 65 geredet, eine schlauheit? oh sokrates, sokrates, war das / 66 uielleicht dein geheimniss? oh geheimnissvoller ironiker, war / 67 dies uielleicht deine ironie?. / 68 was ich damals zu fassen bekam, etwas furchtbares und / 69 gefaehrliches, ein problem mit hoernern, nicht nothwendig gerade / 70 ein stier, jedenfalls ein neues problem: heute wuerde ich sagen, / 71 dass es das problem der wissenschaft selbst war / 72 wissenschaft zum erstem male als problematisch, als fragwuerdig / 73 gefasst. aber das buch, in dem mein jugendlicher muth und argwohn / 74 sich damals ausliess was fuer ein unmoegliches buch / 75 musste aus einer so jugendwidrigen aufgabe erwachsen. aufgebaut / 76 aus lauter vorzeitigen uebergruenen selbsterlebnissen, welche / 77 alle hart an der schwelle des mittheilbaren lagen, hingestellt auf / 78 den boden der kunst denn das problem der wissenschaft / 79 kann nicht auf dem boden der wissenschaft erkannt werden, / 80 ein buch uielleicht fuer kuenstler mit dem nebenhange analytischer / 81 und retrospektiver faehigkeiten (das heistt fuer eine ausnahme / 82 art von kuenstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal / 83 suchen moechte ---), voller psychologischer neverungen und / 84 artisten heimlichkeiten, mit einer artisten metaphysik im / 85 hintergrunde, ein jugendwerk voller jugendmuth und jugendschwermuth, / 86 unabhaengig, trotzig selbststaendig auch noch, wo es / 87 sich einer autoritaet und eignen verehrung zu beugen scheint, / 88 kurz ein erstlingswerk auch in jedem schlimmen sinne des wortes, / 89 trotz seines greisenhaften problems, mit jedem fehler der jugend / 90 behaftet, vor allem mit ihrem "uiel zu lang", ihrem "sturm / 91 und drang": andererseits, in hinsicht auf den erfolg, den es / 92 hatte (in sonderheit bei dem grossen kuenstler, an den es sich wie / 93 zu einem zwiegespraech wendete, bei richard wagner) ein bewiesenes / 94 $V00 C 8 L 1 95 buch, ich meine ein solches, das jedenfalls, "den / 96 besten seiner zeit" genug gethan hat. darauf hin sollte es schon / 97 mit einiger ruecksicht und schweigsamkeit behandelt werden; / 98 trotzdem will ich nicht gaenzlich unterdruecken, wie unangenehm / 99 es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn jahren / 100 vor mir steht, vor einem aelteren, hundert mal verwoehnteren, / 101 aber keineswegs kaelter gewordenen auge, das auch jener aufgabe / 102 selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene buch / 103 zum ersten male herangewagt hat, die wissenschaft / 104 unter der optik des kuenstlers zu sehn, die / 105 kunst aber unter der des lebens ---. / 106 nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmoegliches buch, ich / 107 heisse es schlecht geschrieben, schwerfaellig, peinlich, bilderwuethig / 108 und bilderwirrig, gefuehlsam, hier und da verzuckert bis zum / 109 femininischen, ungleich im tempo, ohne willen zur logischen / 110 sauberkeit, sehr ueberzeugt und deshalb des beweisens sich ueberhebend, / 111 misstrauisch selbst gegen die schicklichkeit des / 112 beweisens, als buch fuer eingeweihte, als "musik" fuer solche, die / 113 auf musik getauft, die auf gemeinsame und seltene kunsterfahrungen / 114 hin von anfang der dinge an verbunden sind, als erkennungszeichen / 115 fuer blutsverwandte in artibus, ein hochmuethiges / 116 und schwaermerisches buch, das sich gegen das profanum / 117 uulgus der "gebildeten" von vornherein noch mehr als gegen / 118 das "volk" abschliesst, welches aber, wie seine wirkung bewies / 119 und beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich / 120 seine mitschwaermer zu suchen und sie auf neue schleichwege und / 121 tanzplaetze zu locken. hier redete jedenfalls das gestand man / 122 sich mit neugierde ebenso als mit abneigung ein eine fremde / 123 stimme, der juenger eines noch "unbekannten gottes", der sich / 124 einstweilen unter die kaputze des gelehrten, unter die schwere / 125 und dialektische unlustigkeit des deutschen, selbst unter die / 126 $V00 C 9 L 1 127 schlechten manieren des wagnerianers versteckt hat; hier war / 128 ein geist mit fremden, noch namenlosen bedverfnissen, ein gedaechtniss / 129 strotzend von fragen, erfahrungen, verborgenheiten, / 130 welchen der name dionysos wie ein fragezeichen mehr beigeschrieben / 131 war; hier sprach so sagte man sich mit argwohn / 132 etwas wie eine mystische und beinahe maenadische seele, die mit / 133 muehsal und willkverlich, fast unschluessig darueber, ob sie sich / 134 mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden / 135 zunge stammelt. sie haette singen sollen, diese "neue seele" / 136 und nicht reden. wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen / 137 hatte, es nicht als dichter zu sagen wagte: ich haette es uielleicht / 138 gekonnt. oder mindestens als philologe: bleibt doch auch / 139 heute noch fuer den philologen auf diesem gebiete beinahe alles / 140 zu entdecken und auszugraben. vor allem das problem, dass / 141 hier ein problem vorliegt, und dass die griechen, so lange wir / 142 keine antwort auf die frage "was ist dionysisch" haben, nach / 143 wie vor gaenzlich unerkannt und unvorstellbar sind ---. / 144 ja, was ist dionysisch? in diesem buche steht eine antwort / 145 darauf, ein "wissender" redet da, der eingeweihte und juenger / 146 seines gottes. uielleicht wuerde ich jetzt vorsichtiger und / 147 weniger beredt von einer so schweren psychologischen frage / 148 reden, wie sie der ursprung der tragoedie bei den griechen ist. / 149 eine grundfrage ist das verhaeltniss des griechen zum schmerz, / 150 sein grad von sensibilitaet, blieb dies verhaeltniss sich gleich? / 151 oder drehte es sich um? jene frage, ob wirklich sein immer / 152 staerkeres verlangen nach schoenheit, nach festen, / 153 lustbarkeiten, neuen culten, aus mangel, aus entbehrung, aus / 154 melancholie, aus schmerz erwachsen ist? gesetzt naemlich, gerade / 155 dies waere wahr und perikles (oder thukydides) giebt es uns / 156 in der grossen leichenrede zu verstehen: woher muesste dann / 157 das entgegengesetzte verlangen, das der zeit nach frueher hervortrat, / 158 $V00 C0010 L 1 159 stammen, das verlangen nach dem haesslichen, / 160 der gute strenge wille des aelteren hellenen zum pessimismus, zum / 161 tragischen mythus, zum bilde alles furchtbaren, boesen, raethselhaften, / 162 vernichtenden, verhaengnissvollen auf dem grunde des / 163 daseins, woher muesste dann die tragoedie stammen? uielleicht / 164 aus der lust, aus der kraft, aus uberstromender gesundheit, / 165 aus uebergrosser fuelle? und welche bedeutung hat dann, physiologisch / 166 gefragt, jener wahnsinn, aus dem die tragische wie die / 167 komische kunst erwuchs, der dionysische wahnsinn? wie? ist / 168 wahnsinn uielleicht nicht nothwendig das sympton der entartung, / 169 des niedergangs, der ueberspaeten cultur? giebt es uielleicht / 170 eine frage fuer irrenaerzte neurosen der gesundheit? / 171 der volksjugend und jugendlichen? worauf weist jene / 172 synthesis von gott und bock im satyr? aus welchem selbsterlebniss, / 173 auf welchen drang hin musste sich der grieche den dionysischen / 174 schwaermer und urmenschen als satyr denken? und was / 175 den ursprung des tragischen chors betrifft: gab es in jenen jahrhunderten, / 176 wo der griechische leib bluehte, die griechische seele / 177 von leben ueberschaeumte, uielleicht endemische entzueckungen? / 178 uisionen und hallucinationen, welche sich ganzen gemeinden, / 179 ganzen cultversammlungen mittheilten? wie? wenn die griechen, / 180 gerade im reichthum ihrer jugend, den willen zum tragischen / 181 hatten und pessimisten waren? wenn es gerade der wahnsinn / 182 war, um ein wort plato's zu gebrauchen, der die groessten / 183 segnungen ueber hellas gebracht hat? und wenn, andererseits und / 184 umgekehrt, die griechen gerade in den zeiten ihrer aufloesung / 185 und schwaeche, immer optimistischer, oberflaechlicher, schauspielerischer, / 186 auch nach logik und logisirung der welt bruenstiger, also / 187 zugleich "heiterer" und "wissenschaftlicher" wurden? wie? koennte / 188 uielleicht, allen "modernen ideen" und vorurtheilen des demokratischen / 189 geschmacks zum trotz, der sieg des optimismus, / 190 die vorherrschend gewordene vernuenftigkeit, der praktische / 191 und theoretische utilitarismus, gleich der demokratie / 192 selbst, mit der er gleichzeitig ist, ein sympton der absinkenden / 193 $V00 C0011 L 1 194 kraft, des nahenden alters, der physiologischen ermuedung / 195 sein? und gerade nicht der pessimismus? war epikur / 196 ein optimist gerade als leidender? man sieht, es ist / 197 ein ganzes buendel schwerer fragen, mit dem sich dieses buch belastet / 198 hat, fuegen wir seine schwerste frage noch hinzu. was / 199 bedeutet, unter der optik des lebens gesehn, die moral? / 200 bereits im vorwort an richard wagner wird die kunst / 201 und nicht die moral als die eigentlich metaphysische / 202 thaetigkeit des menschen hingestellt; im buche selbst kehrt der anzuegliche / 203 satz mehrfach wieder, dass nur als aesthetisches phaenomen / 204 das dasein der welt gerechtfertigt ist. in der that / 205 das ganze buch kennt nur einen kuenstlersinn und hintersinn / 206 hinter allem geschehen, einen "gott", wenn man will, aber / 207 gewiss nur einen gaenzlich unbedenklichen und unmoralischen / 208 kuenstlergott, der im bauen wie im zerstoeren, im guten wie im / 209 schlimmen, seiner gleichen lust und selbstherrlichkeit inne werden / 210 will, der sich, welten schaffend, von der noth der fuelle und / 211 ueberfuelle, vom leiden der in ihm gedraengten gegensaetze / 212 loest. die welt, in jedem augenblicke die erreichte erloesung / 213 gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue uision des / 214 leidendsten, gegensaetzlichsten, widerspruchreichsten der nur / 215 im scheine sich zu erloesen weiss: diese ganze artistenmetaphysik / 216 mag man willkverlich, muessig, phantastisch nennen, das / 217 wesentliche daran ist, dass sie bereits einen geist verraeth, der / 218 sich einmal auf jede gefahr hin gegen die moralische ausdeutung / 219 und bedeutsamkeit des daseins zur wehre setzen wird. / 220 hier kuendigt sich, uielleicht zum ersten male, ein pessimismus / 221 "jenseits von gut und boese" an, hier kommt jene "perversitaet / 222 der gesinnung" zu wort und formel, gegen welche schopenhaver / 223 nicht muede geworden ist, im voraus seine zornigsten flueche und / 224 donnerkeile zu schleudern, eine philosophie, welche es wagt, / 225 $V00 C0012 L 1 226 die moral selbst in die welt der erscheinung zu setzen, herabzusetzen / 227 und nicht nur unter die "erscheinungen" (im sinne des / 228 idealistischen terminus technicus), sondern unter die "taeuschungen", / 229 als schein, wahn, irrthum, ausdeutung, zurechtmachung, / 230 kunst. uielleicht laesst sich die tiefe dieses widermoralischen / 231 hanges am besten aus dem behutsamen und feindseligen / 232 schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen buche das christenthum / 233 behandelt ist, das christenthum als die ausschweifendste / 234 durchfigurirung des moralischen thema's, welche die menschheit / 235 bisher anzuhoeren bekommen hat. in wahrheit, es giebt zu der / 236 rein aesthetischen weltauslegung und weltrechtfertigung, wie / 237 sie in diesem buche gelehrt wird, keinen groesseren gegensatz als / 238 die christliche lehre, welche nur moralisch ist und sein will und / 239 mit ihren absoluten maassen, zum beispiel schon mit ihrer wahrhaftigkeit / 240 gottes, die kunst, jede kunst in's reich der luege / 241 verweist, das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. hinter / 242 einer derartigen denk- und werthungsweise, welche kunstfeindlich / 243 sein muss, so lange sie irgendwie aecht ist, empfand ich von / 244 jeher auch das lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsuechtigen / 245 widerwillen gegen das leben selbst: denn alles leben / 246 ruht auf schein, kunst, taeuschung, optik, nothwendigkeit des / 247 perspektiuischen und des irrthums. christenthum war von anfang / 248 an, wesentlich und gruendlich, ekel und ueberdruss des lebens / 249 am leben, welcher sich unter dem glauben an ein "anderes" / 250 oder "besseres" leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. / 251 der hass auf die "welt", der fluch auf die affekte, die / 252 furcht vor der schoenheit und sinnlichkeit, ein jenseits, erfunden, / 253 um das diesseits besser zu verleumden, im grunde ein verlangen / 254 in's nichts, an's ende, in's ausruhen, hin zum "sabbat der sabbate" / 255 dies alles duenkte mich, ebenso wie der unbedingte / 256 wille des christenthums, nur moralische werthe gelten zu / 257 lassen, immer wie die gefaehrlichste und unheimlichste form aller / 258 moeglichen formen eines "willens zum untergang", zum mindesten / 259 ein zeichen tiefster erkrankung, muedigkeit, missmuthigkeit, / 260 $V00 C0013 L 1 261 erschoepfung, verarmung an leben, denn vor der moral / 262 (in sonderheit christlichen, das heisst unbedingten moral) muss / 263 das leben bestaendig und unvermeidlich unrecht bekommen, weil / 264 leben etwas essentiell unmoralisches ist, muss endlich das / 265 leben, erdrueckt unter dem gewichte der verachtung und des / 266 ewigen nein's, als begehrensunwuerdig, als unwerth an sich / 267 empfunden werden. moral selbst wie? sollte moral nicht ein, / 268 "wille zur verneinung des lebens", ein heimlicher instinkt der / 269 vernichtung, ein verfalls-, verkleinerungs-, verleumdungsprincip, / 270 ein anfang vom ende sein? und, folglich, die gefahr der / 271 gefahren? gegen die moral also kehrte sich damals, mit / 272 diesem fragwuerdigen buche, mein instinkt, als ein fuersprechender / 273 instinkt des lebens, und erfand sich eine grundsaetzliche gegenlehre / 274 und gegenwerthung des lebens, eine rein artistische, / 275 eine antichristliche. wie sie nennen? als philologe und / 276 mensch der worte taufte ich sie, nicht ohne einige freiheit denn / 277 wer wuesste den rechten namen des antichrist? auf den namen / 278 eines griechischen gottes: ich hiess sie die dionysische. / 279 man versteht, an welche aufgabe ich bereits mit diesem buche / 280 zu ruehren wagte? wie sehr bedavere ich es jetzt, dass ich damals / 281 noch nicht den muth (oder die unbescheidenheit?) hatte, um / 282 mir in jedem betrachte fuer so eigne anschauungen und wagnisse / 283 auch eine eigne sprache zu erlauben, dass ich muehselig mit / 284 schopenhaverischen und kantischen formeln fremde und neue / 285 werthschaetzungen auszudruecken suchte, welche dem geiste kantens / 286 und schopenhavers, ebenso wie ihrem geschmacke, von / 287 grund aus entgegen giengen. wie dachte doch schopenhaver ueber / 288 die tragoedie? "was allem tragischen den eigenthuemlichen / 289 schwung zur erhebung giebt sagt er, / 290 ist das aufgehen der erkenntniss, dass die / 291 welt, das leben kein rechtes genuegen geben koenne, mithin unsrer / 292 $V00 C0014 L 1 293 anhaenglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische / 294 geist, er leitet demnach zur resignation hin". oh wie / 295 anders redete dionysos zu mir. oh wie ferne war mir damals / 296 gerade dieser ganze resignationismus. aber es giebt etwas uiel / 297 schlimmeres an dem buche, das ich jetzt noch mehr bedavere, als / 298 mit schopenhaverischen formeln dionysische ahnungen verdunkelt / 299 und verdorben zu haben: dass ich mir naemlich ueberhaupt das / 300 grandiose griechische problem, wie mir es aufgegangen / 301 war, durch einmischung der modernsten dinge verdarb. dass / 302 ich hoffnungen anknuepfte, wo nichts zu hoffen war, wo alles / 303 allzudeutlich auf ein ende hinwies. dass ich, auf grund der deutschen / 304 letzten musik, vom "deutschen wesen" zu fabeln begann, / 305 wie als ob es eben im begriff sei, sich selbst zu entdecken und / 306 wiederzufinden und das zu einer zeit, wo der deutsche geist, / 307 der nicht vor langem noch den willen zur herrschaft ueber / 308 europa, die kraft zur fuehrung europa's gehabt hatte, eben letztwillig / 309 und endgueltig abdankte und, unter dem pomphaften / 310 vorwande einer reichsbegruendung, seinen uebergang zur vermittelmaessigung, / 311 zur demokratie und den "modernen ideen" / 312 machte. in der that, inzwischen lernte ich hoffnungslos und / 313 schonungslos genug von diesem "deutschen wesen" denken, insgleichen / 314 von der jetzigen deutschen musik, als welche / 315 romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller moeglichen / 316 kunstformen: ueberdies aber eine neruenverderberin ersten / 317 ranges, doppelt gefaehrlich bei einem volke, das den trunk liebt / 318 und die unklarheit als tugend ehrt, naemlich in ihrer doppelten / 319 eigenschaft als berauschendes und zugleich benebelndes narkotikum. / 320 abseits freilich von allen uebereilten hoffnungen / 321 und fehlerhaften nutzanwendungen auf gegenwaertigstes, mit / 322 denen ich mir damals mein erstes buch verdarb, bleibt das grosse / 323 dionysische fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in betreff / 324 der musik, fort und fort bestehen: wie muesste eine musik beschaffen / 325 sein, welche nicht mehr romantischen ursprungs waere, / 326 gleich der deutschen, sondern dionysischen? / 327 $V00 C0015 L 1 328 aber, mein herr, was in aller welt ist romantik, wenn / 329 nicht ihr buch romantik ist? laesst sich der tiefe hass gegen / 330 "jetztzeit", "wirklichkeit" und "moderne ideen" weiter treiben, / 331 als es in ihrer artistenmetaphysik geschehen ist? welche lieber / 332 noch an das nichts, lieber noch an den teufel, als an das "jetzt" / 333 glaubt? brummt nicht ein grundbass von zorn und vernichtungslust / 334 unter aller ihrer contrapunktischen stimmenkunst und / 335 ohrenverfuehrerei hinweg, eine wuethende entschlossenheit gegen / 336 alles, was "jetzt" ist, ein wille, welcher nicht gar zu ferne vom / 337 praktischen nihilismus ist und zu sagen scheint "lieber mag nichts / 338 wahr sein, als dass ihr recht haettet, als dass eure wahrheit / 339 recht behielte". hoeren sie selbst, mein herr pessimist und / 340 kunstvergoettlicher, mit aufgeschlossnerem ohre eine einzige ausgewaehlte / 341 stelle ihres buches an, jene nicht unberedte drachentoedterstelle / 342 welche fuer junge ohren und herzen verfaenglich / 343 rattenfaengerisch klingen mag: wie? ist das nicht das aechte rechte / 344 romantikerbekenntnis von 1830, unter der maske des pessimismus / 345 von 1850? hinter dem auch schon das uebliche romantikerfinale / 346 praeludirt, bruch, zusammenbruch, rueckkehr und niedersturz / 347 vor einem alten glauben, vor dem alten gotte ---. wie? / 348 ist ihr pessimistenbuch nicht selbst ein stueck antigriechenthum / 349 und romantik, selbst etwas "ebenso berauschendes als benebelndes", / 350 ein narkotikum jedenfalls, ein stueck musik sogar, deutscher / 351 musik? aber man hoere: / 352 "denken wir uns eine heranwachsende generation mit dieser unerschrockenheit / 353 des blicks, mit diesem heroischen zug in's ungeheure, / 354 denken wir uns den kuehnen schritt dieser drachentoedter, die stolze / 355 verwegenheit, mit der sie allen den schwaechlichkeitsdok des / 356 optimismus den ruecken kehren, um im ganzen und vollen "resolut zu / 357 leben": sollte es nicht noethig sein, dass der tragische mensch / 358 dieser cultur, bei seiner selbsterziehung zum ernst und zum schrecken, / 359 eine neue kunst, die kunst des metaphysischen trostes, / 360 die tragoedie als die ihm zugehoerige helena begehren und mit faust / 361 ausrufen muss: / 362 und sollt' ich nicht, sehnsuechtigster gewalt, / 363 in's leben zieh'n die einzigste gestalt? / 364 $V00 C0016 L 1 365 "sollte es nicht noethig sein"?. nein, drei mal nein. ihr / 366 jungen romantiker: es sollte nicht noethig sein. aber es ist sehr / 367 wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, naemlich / 368 "getroestet", wie geschrieben steht, trotz aller selbsterziehung zum / 369 ernst und zum schrecken, "metaphysisch getroestet", kurz, wie / 370 romantiker enden, christlich --- nein. ihr solltet vorerst / 371 die kunst des diesseitigen trostes lernen, ihr solltet / 372 lachen lernen, meine jungen freunde, wenn anders ihr durchaus / 373 pessimisten bleiben wollt; uielleicht dass ihr darauf hin, als / 374 lachende, irgendwann einmal alle metaphysische troesterei zum / 375 teufel schickt und die metaphysik voran. oder, um es in der / 376 sprache jenes dionysischen unholds zu sagen, der zarathustra / 377 heisst: / 378 "erhebt eure herzen, meine brueder, hoch, hoeher. und vergesst / 379 mir auch die beine nicht. erhebt auch eure beine, ihr guten / 380 taenzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem kopf. / 381 diese krone des lachenden, diese rosenkranzkrone: ich / 382 selber setzte mir diese krone auf, ich selber sprach heilig mein / 383 gelaechter. keinen anderen fand ich heute stark genug dazu. / 384 zarathustra der taenzer, zarathustra der leichte, der mit / 385 den fluegeln winkt, ein flugbereiter, allen voegeln zuwinkend, / 386 bereit und fertig, ein selig leichtfertiger: / 387 zarathustra der wahrsager, zarathustra der wahrlacher, / 388 kein ungeduldiger, kein unbedingter, einer, der spruenge und / 389 seitenspruenge liebt: ich selber setzte mir diese krone auf. / 390 diese krone des lachenden, diese rosenkranzkrone: euch, / 391 meinen bruedern, werfe ich diese krone zu. das lachen sprach / 392 ich heilig: ihr hoeheren menschen, lernt mich lachen". / 393 $V00 C0017 L 1 394 die / 395 geburt der tragoedie / 396 aus dem / 397 geiste der musik. / 398 $V00 C0019 L 1 399 vorwort an richard wagner. / 400 um mir alle die moeglichen bedenklichkeiten, aufregungen / 401 und missverstaendnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser / 402 schrift verei en gedanken bei dem eigenthuemlichen charakter / 403 unserer aesthetischen oeffentlichkeit anlass geben werden, / 404 und um auch die einleitungsworte zu derselben mit der gleichen / 405 beschaulichen wonne schreiben zu koennen, deren zeichen sie / 406 selbst, als das petrefact guter und erhebender stunden, auf jedem / 407 blatte traegt, vergegenwaertige ich mir den augenblick, in dem / 408 sie, mein hochverehrter freund, diese schrift empfangen werden: / 409 wie sie, uielleicht nach einer abendlichen wanderung im / 410 winterschnee, den entfesselten prometheus auf dem titelblatte / 411 betrachten, meinen namen lesen und sofort ueberzeugt sind, dass, / 412 mag in dieser schrift stehen, was da wolle, der verfasser etwas / 413 ernstes und eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei / 414 allem, was er sich erdachte, mit ihnen wie mit einem gegenwaertigen / 415 verkehrte und nur etwas dieser gegenwart entsprechendes / 416 niederschreiben durfte. sie werden dabei sich erinnern, dass / 417 ich zu gleicher zeit, als ihre herrliche festschrift ueber beethouen / 418 entstand, das heisst, in den schrecken und erhabenheiten des eben / 419 ausgebrochnen krieges, mich zu diesen gedanken sammelte. doch / 420 wuerden diejenigen irren, welche etwa bei dieser sammlung an den / 421 $V00 C0020 L 1 422 gegensatz von patriotischer erregung und aesthetischer schwelgerei, / 423 von tapferem ernst und heiterem spiel denken sollten: denen / 424 moechte uielmehr, bei einem wirklichen lesen dieser schrift, zu / 425 ihrem erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen / 426 problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in / 427 die mitte deutscher hoffnungen, als wirbel und wendepunkt, / 428 hingestellt wird. uielleicht aber wird es fuer ebendieselben ueberhaupt / 429 anstoessig sein, ein aesthetisches problem so ernst genommen / 430 zu sehn, falls sie naemlich in der kunst nicht mehr als ein / 431 lustiges nebenbei, als ein auch wohl zu missendes schellengeklingel / 432 zum ernst des daseins zu erkennen imstande sind: als ob / 433 niemand wuesste, was es bei dieser gegenueberstellung mit einem / 434 solchen ernste des daseins auf sich habe. diesen ernsthaften / 435 diene zur belehrung, dass ich von der kunst als der hoechsten aufgabe / 436 und der eigentlich metaphysischen thaetigkeit dieses lebens / 437 im sinne des mannes ueberzeugt bin, dem ich hier, als meinem / 438 erhabenen vorkaempfer auf dieser bahn, diese schrift gewidmet / 439 haben will. / 440 basel, ende des jahres 1871. / 441 $V00 C0021 L 2 442 wir werden uiel fuer die aesthetische wissenschaft gewonnen / 443 haben, wenn wir nicht nur zur logischen einsicht, sondern zur / 444 unmittelbaren sicherheit der anschauung gekommen sind, dass / 445 die fortentwickelung der kunst an die duplicitaet des apollinischen / 446 und des dionysischen gebunden ist: in aehnlicher / 447 weise, wie die generation von der zweiheit der geschlechter, bei / 448 fortwaehrendem kampfe und nur periodisch eintretender versoehnung, / 449 abhaengt. diese namen entlehnen wir von den griechen, / 450 welche die tiefsinnigen geheimlehren ihrer kunstanschauung / 451 zwar nicht in begriffen, aber in den eindringlich deutlichen / 452 gestalten ihrer goetterwelt dem einsichtigen vernehmbar machen. / 453 an ihre beiden kunstgottheiten, apollo und dionysus, knuepft / 454 sich unsere erkenntniss dass in der griechischen welt ein ungeheurer / 455 gegensatz, nach ursprung und zielen, zwischen der / 456 kunst des bildners, der apollinischen, und der unbildlichen kunst der / 457 musik, als der des dionysus, besteht: beide so verschiedne / 458 triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offnen zwiespalt / 459 miteinander und sich gegenseitig zu immer neuen kraeftigeren geburten / 460 reizend, um in ihnen den kampf jenes gegensatzes zu / 461 perpetuiren den das gemeinsame wort kunst nur scheinbar / 462 ueberbrueckt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen wunderakt / 463 des hellenischen willens, miteinander gepaart erscheinen / 464 $V00 C0022 L 1 465 und in dieser paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische / 466 kunstwerk der attischen tragoedie erzeugen. / 467 um uns jene beiden triebe naeherzubringen, denken wir sie / 468 uns zunaechst als die getrennten kunstwelten des traumes und / 469 des rausches; zwischen welchen physiologischen erscheinungen / 470 ein entsprechender gegensatz wie zwischen dem apollinischen / 471 und dem dionysischen zu bemerken ist. im traume traten / 472 zverst, nach der vorstellung des lucretius die herrlichen goettergestalten / 473 vor die seelen der menschen, im traume sah der grosse / 474 bildner den entzueckenden gliederbau uebermenschlicher wesen, / 475 und der hellenische dichter, um die geheimnisse der poetischen / 476 zeugung befragt, wuerde ebenfalls an den traum erinnert und / 477 eine aehnliche belehrung gegeben haben, wie sie hans sachs in / 478 den meistersingern giebt / 479 mein freund, das grad ist dichters werk, / 480 dass er sein trauemen deut' und merk'. / 481 glaubt mir, des menschen wahrster wahn, / 482 wird ihm im traume aufgetan: / 483 all dichtkunst und poeterei / 484 ist nichts als wahrtraumdeuterei. / 485 der schoene schein der traumwelten, in deren erzeugung / 486 jeder mensch voller kuenstler ist, ist die voraussetzung aller bildenden / 487 kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen / 488 haelfte der poesie. wir geniessen im unmittelbaren verstaendnisse / 489 der gestalt, alle formen sprechen zu uns, es giebt nichts gleichgueltiges / 490 und unnoetiges. bei dem hoechsten leben dieser traumwirklichkeit / 491 haben wir doch noch die durchschimmernde empfindung / 492 ihres scheins: wenigstens ist dies meine erfahrung, fuer / 493 deren hauefigkeit, ja normalitaet ich manches zeugniss und die / 494 aussprueche der dichter beizubringen haette. der philosophische / 495 mensch hat sogar das vorgefuehl, dass auch unter dieser wirklichkeit, / 496 in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen / 497 liege, dass also auch sie ein schein sei; und schopenhaver / 498 bezeichnet geradezu diese gabe, dass einem zuzeiten die menschen / 499 $V00 C0023 L 1 500 und alle dinge als blosse phantome oder traumbilder vorkommen, / 501 als das kennzeichen philosophischer befaehigung. wie / 502 nun der philosoph zur wirklichkeit des daseins, so verhaelt sich / 503 der kuenstlerisch erregbare mensch zur wirklichkeit des traumes; / 504 er sieht genau und gern zu: denn aus diesen bildern deutet er / 505 sich das leben, an diesen vorgaengen uebt er sich fuer das leben. / 506 nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen bilder sind / 507 es, die er mit jener allverstaendlichkeit an sich erfaehrt: auch das / 508 ernste, truebe, traurige, finstere, die ploetzlichen hemmungen, / 509 die nekkereien des zufalls, die baenglichen erwartungen, kurz die / 510 ganze goettliche komoedie des lebens, mit dem inferno, zieht / 511 an ihm vorbei, nicht nur wie ein schattenspiel, denn er lebt / 512 und leidet mit in diesen scenen und doch auch nicht ohne / 513 jene fluechtige empfindung des scheins; und uielleicht erinnert / 514 sich mancher, gleich mir, in den gefaehrlichkeiten und schrecken / 515 des traumes sich mitunter ermuthigend und mit erfolg zugerufen / 516 zu haben: es ist ein traum ich will ihn weitertrauemen. / 517 wie man mir auch von personen erzaehlt hat, die die causalitaet / 518 eines und desselben traumes ueber drei und mehr aufeinanderfolgende / 519 naechte hin fortzusetzen imstande waren: thatsachen / 520 welche deutlich zeugniss dafuer abgeben, dass unser innerstes / 521 wesen, der gemeinsame untergrund von uns allen, mit tiefer / 522 lust und freudiger nothwendigkeit den traum an sich erfaehrt. / 523 diese freudige nothwendigkeit der traumerfahrung ist / 524 gleichfalls von den griechen in ihrem apollo ausgedrueckt worden: / 525 apollo, als der gott aller bildnerischen kraefte, ist zugleich / 526 der wahrsagende gott. er, der seiner wurzel nach der scheinende, / 527 die lichtgottheit, ist, beherrscht auch den schoenen schein / 528 der inneren phantasiewelt. die hoehere wahrheit, die vollkommenheit / 529 dieser zustaende im gegensatz zu der lueckenhaft / 530 verstaendlichen tageswirklichkeit, sodann das tiefe bewusstsein / 531 von der in schlaf und traum heilenden und helfenden natur ist / 532 zugleich das symbolische analogon der wahrsagenden / 533 faehigkeit und ueberhaupt der kuenste, durch die das leben moeglich und / 534 $V00 C0024 L 1 535 lebenswerth gemacht wird. aber auch jene zarte linie, die das / 536 traumbild nicht ueberschreiten darf, um nicht pathologisch zu / 537 wirken, widrigenfalls der schein als plumpe wirklichkeit uns / 538 betruegen wuerde darf nicht im bilde des apollo fehlen: jene / 539 maassvolle begrenzung, jene freiheit von den wilderen regungen, / 540 jene weisheitsvolle ruhe des bildnergottes. sein auge muss / 541 sonnenhaft, gemaess seinem ursprunge, sein; auch wenn es / 542 zvernt und unmuthig blickt, liegt die weihe des schoenen scheines / 543 auf ihm. und so moechte von apollo in einem excentrischen sinne / 544 das gelten, was schopenhaver von dem im schleier der maja / 545 befangenen menschen sagt: welt als wille und vorstellung: / 546 wie auf dem tobenden meere, das, nach allen seiten / 547 unbegraenzt heulend wellenberge erhebt und senkt, auf einem / 548 kahn ein schiffer sitzt, dem schwachen fahrzeug vertrauend; / 549 so sitzt, mitten in einer welt von qualen, ruhig der einzelne / 550 mensch, gestuetzt und vertrauend auf das principium indiuiduationis. / 551 ja es waere von apollo zu sagen, dass in ihm das / 552 unerschuetterte vertrauen auf jenes principium und das ruhige / 553 dasitzen des in ihm befangenen seinen erhabensten ausdruck / 554 bekommen habe, und man moechte selbst apollo als das herrliche / 555 goetterbild des principii indiuiduationis bezeichnen, aus dessen / 556 gebaerden und blicken die ganze lust und weisheit des / 557 scheines, sammt seiner schoenheit, zu uns spraeche. / 558 an derselben stelle hat uns schopenhaver das ungeheure / 559 grausen geschildert, welches den menschen ergreift wenn er / 560 ploetzlich an den erkenntnisformen der erscheinung irre wird, / 561 indem der satz vom grunde, in irgendeiner seiner gestaltungen, / 562 eine ausnahme zu erleiden scheint. wenn wir zu diesem grausen / 563 die wonnevolle verzueckung hinzunehmen, die bei demselben / 564 zerbrechen des principii indiuiduationis aus dem innersten / 565 grunde des menschen, ja der natur, emporsteigt, so thun wir / 566 einen blick in das wesen des dionysischen, das uns am / 567 naechsten noch durch die analogie des rausches gebracht / 568 wird. entweder durch den einfluss des narkotischen getraenkes, / 569 $V00 C0025 L 1 570 von dem alle urspruenglichen menschen und voelker in hymnen / 571 sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze natur lustvoll / 572 durchdringenden nahen des fruehlings erwachen jene dionysischen / 573 regungen, in deren steigerung das subjectiue zu voelliger / 574 selbstvergessenheit hinschwindet. auch im deutschen mittelalter / 575 waelzten sich unter der gleichen dionysischen gewalt immer / 576 wachsende schaaren singend und tanzend, von ort zu ort: in / 577 diesen sanct-johann und sanct-ueit taenzen erkennen wir die / 578 bacchischen choere der griechen wieder, mit ihrer vorgeschichte / 579 in kleinasien, bis hin zu babylon und den orgiastischen sakaeen. / 580 es giebt menschen, die, aus mangel an erfahrung oder aus / 581 stumpfsinn, sich von solchen erscheinungen wie von volkskrankheiten, / 582 spoettisch oder bedavernd im gefuehl der eigenen / 583 gesundheit, abwenden: die armen ahnen freilich nicht, wie / 584 leichenfarbig und gespenstisch ebendiese ihre gesundheit sich / 585 ausnimmt, wenn an ihnen das gluehende leben dionysischer / 586 schwaermer vorueberbraust. / 587 unter dem zauber des dionysischen schliesst sich nicht nur / 588 der bund zwischen mensch und mensch wieder zusammen: auch / 589 die entfremdete, feindliche oder unterjochte natur feiert wieder / 590 ihr versoehnungsfest mit ihrem verlorenen sohne, dem menschen. / 591 freiwillig beut die erde ihre gaben, und friedfertig nahen / 592 die raubthiere der felsen und der wueste. mit blumen und / 593 kraenzen ist der wagen des dionysus ueberschuettet unter seinem / 594 joche schreiten panther und tiger. man verwandele das beethouensche / 595 jubellied der freude in ein gemaelde und bleibe / 596 mit seiner einbildungskraft nicht zurueck, wenn die millionen / 597 schavervoll in den staub sinken: so kann man sich dem dionysischen / 598 naehern. jetzt ist der sclaue freier mann, jetzt zerbrechen / 599 alle die starren, feindseligen abgrenzungen, die noth willkver / 600 oder freche mode zwischen den menschen festgesetzt haben. / 601 jetzt, bei dem euangelium der weltenharmonie, fuehlt sich / 602 jeder mit seinem naechsten nicht nur verei , versoehnt, verschmolzen, / 603 sondern eins, als ob der schleier der maja zerrissen / 604 $V00 C0026 L 1 605 waere und nur noch in fetzen vor dem geheimnissvollen ureinen / 606 herumflattere. singend und tanzend aeussert sich der / 607 mensch als mitglied einer hoeheren gemeinsamkeit er hat das / 608 gehen und das sprechen verlernt und ist auf dem wege, tanzend / 609 in die luefte emporzufliegen. aus seinen gebaerden spricht die / 610 verzauberung. wie jetzt die thiere reden und die erde milch / 611 und honig giebt so toent auch aus ihm etwas uebernatverliches / 612 als gott fuehlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzueckt und / 613 erhoben, wie er die goetter im traume wandeln sah. der mensch / 614 ist nicht mehr kuenstler, er ist kunstwerk geworden: die kunstgewalt / 615 der ganzen natur, zur hoechsten wonnebefriedigung des / 616 ureinen, offenbart sich hier unter den schavern des rausches. / 617 der edelste thon der kostbarste marmor wird hier geknetet / 618 und behauen, der mensch, und zu den meisselschlaegen des dionysischen / 619 weltenkuenstlers toent der eleusinische mysterienruf: ihr / 620 stverzt nieder, millionen. ahnest du den schoepfer, welt. / 621 wir haben bis jetzt das apollinische und seinen gegensatz, / 622 das dionysische, als kuenstlerische maechte betrachtet, die aus der / 623 natur selbst, ohne vermittelung des menschlichen / 624 kuenstlers, hervorbrechen und in denen sich ihre kunsttriebe / 625 zunaechst und auf directem wege befriedigen: einmal als / 626 die bilderwelt des traumes, deren vollkommenheit ohne jeden / 627 zusammenhang mit der intellectuellen hoehe oder kuenstlerischen / 628 bildung des einzelnen ist, andererseits als rauschvolle wirklichkeit, / 629 die wiederum des einzelnen nicht achtet, sondern sogar / 630 das indiuiduum zu vernichten und durch eine mystische einheitsempfindung / 631 zu erloesen sucht. diesen unmittelbaren kunstzustaenden / 632 der natur gegenueber ist jeder kuenstler nachahmer, / 633 und zwar entweder apollinischer traumkuenstler oder dionysischer / 634 rauschkuenstler oder endlich wie beispielsweise in der / 635 griechischen tragoedie zugleich rausch und traumkuenstler: / 636 $V00 C0027 L 1 637 als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der / 638 dionysischen trunkenheit und mystischen selbstentaeusserung, / 639 einsam und abseits von den schwaermenden choeren niedersinkt / 640 und wie sich ihm nun, durch apollinische traumeinwirkung, / 641 sein eigener zustand, das heisst seine einheit mit dem innersten grunde / 642 der welt, in einem gleichnissartigen traumbilde / 643 offenbart. / 644 nach diesen allgemeinen voraussetzungen und gegenueberstellungen / 645 nahen wir uns jetzt den griechen, um zu erkennen, / 646 in welchem grade und bis zu welcher hoehe jene / 647 kunsttriebe der natur in ihnen entwickelt gewesen / 648 sind: wodurch wir in den stand gesetzt werden, das verhaeltniss / 649 des griechischen kuenstlers zu seinen urbildern oder, nach dem / 650 aristotelischen ausdrucke, die nachahmung der natur tiefer / 651 zu verstehn und zu wuerdigen. von den trauemen der griechen / 652 ist trotz aller traumliteratur derselben und zahlreichen / 653 traumanecdoten nur vermuthungsweise aber doch mit ziemlicher / 654 sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten und / 655 sicheren plastischen befaehigung ihres auges, sammt ihren hellen / 656 und aufrichtigen farbenlust, wird man sich nicht entbrechen / 657 koennen, zur beschaemung aller spaetergeborenen, auch fuer ihre / 658 traeume eine logische causalitaet der linien und umrisse, farben / 659 und gruppen eine ihren besten reliefs aehnelnde folge der scenen / 660 vorauszusetzen, deren vollkommenheit uns, wenn eine vergleichung / 661 moeglich waere, gewiss berechtigen wuerde, die traeumenden / 662 griechen als homere und homer als einen traeumenden / 663 griechen zu bezeichnen: in einem tieferen sinne, als wenn der / 664 moderne mensch sich hinsichtlich seines traumes mit shakespeare / 665 zu vergleichen wagt. / 666 dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu / 667 sprechen, wenn die ungeheure kluft aufgedeckt werden soll, / 668 welche die dionysischen griechen von den dionysischen / 669 barbaren trennt. aus allen enden der alten welt um / 670 die nevere hier beiseite zu lassen, von rom bis babylon koennen / 671 $V00 C0028 L 1 672 wir die existenz dionysischer feste nachweisen, deren typus / 673 sich, bestenfalls, zu dem typus der griechischen verhaelt wie / 674 der baertige satyr, dem der bock namen und attribute verlieh, / 675 zu dionysus selbst. fast ueberall lag das centrum dieser feste in / 676 einer ueberschwaenglichen geschlechtlichen zuchtlosigkeit, deren / 677 wellen ueber jedes familienthum und dessen ehrwuerdige satzungen / 678 hinwegflutheten gerade die wildesten bestien der natur / 679 wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen mischung von / 680 wollust und grausamkeit, die mir immer als der eigentliche / 681 hexentrank erschienen ist. gegen die fieberhaften regungen / 682 jener feste, deren kenntniss auf allen land und seewegen zu / 683 den griechen drang, waren sie, scheint es, eine zeitlang voellig / 684 gesichert und geschuetzt durch die hier in seinem ganzen stolz / 685 sich aufrichtende gestalt des apollo, der das medusenhaupt / 686 keiner gefaehrlicheren macht entgegenhalten konnte als dieser / 687 fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. es ist die dorische kunst, in / 688 der sich jene majestaetisch ablehnende haltung des apollo / 689 verewigt hat. bedenklicher und sogar unmoeglich wurde dieser / 690 widerstand, als endlich aus der tiefsten wurzel des hellenischen / 691 heraus sich aehnliche triebe bahn brachen: jetzt beschraenkte sich / 692 das wirken des delphischen gottes darauf, dem gewaltigen / 693 gegner durch eine zur rechten zeit abgeschlossene versoehnung die / 694 vernichtenden waffen aus der hand zu nehmen. diese versoehnung / 695 ist der wichtigste moment in der geschichte des griechischen / 696 cultus wohin man blickt, sind die umwaelzungen dieses / 697 ereignisses sichtbar. es war die versoehnung zweier gegner, mit / 698 scharfer bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden grenzlinien / 699 und mit periodischer uebersendung von ehrengeschenken; / 700 im grunde war die kluft nicht ueberbrueckt. sehen wir aber wie / 701 sich unter dem drucke jenes friedensschlusses die dionysische / 702 macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im vergleiche mit jenen / 703 babylonischen sakaeen und ihrem rueckschritte des menschen / 704 zum tiger und affen, in den dionysischen orgien der griechen / 705 die bedeutung von welterloesungsfesten und verklaerungstagen. / 706 $V00 C0029 L 1 707 erst bei ihnen erreicht die natur ihren kuenstlerischen jubel, erst / 708 bei ihnen wird die zerreissung des principii indiuiduationis ein / 709 kuenstlerisches phaenomen. jener scheussliche hexentrank aus / 710 wollust und grausamkeit war hier ohne kraft: nur die wundersame / 711 mischung und doppelheit in den affecten der dionysischen / 712 schwaermer erinnert an ihn wie heilmittel an toedtliche gifte / 713 erinnern, jene erscheinung, dass schmerzen lust erwecken, / 714 dass der jubel der brust qualvolle toene entreisst. aus der / 715 hoechsten freude toent der schrei des entsetzens oder der sehnende / 716 klagelaut ueber einen unersetzlichen verlust. in jenen griechischen / 717 festen bricht gleichsam ein sentimentalischer zug der natur / 718 hervor, als ob sie ueber ihre zerstueckelung in indiuiduen zu / 719 seufzen habe. der gesang und die gebaerdensprache solcher / 720 zwiefach gestimmter schwaermer war fuer die homerisch griechische / 721 welt etwas neues und unerhoertes: und insbesondere / 722 erregte ihr die dionysische musik schrecken und grausen. / 723 wenn die musik scheinbar bereits als eine apollinische kunst / 724 bekannt war, so war sie dies doch nur, genaugenommen, als / 725 wellenschlag des rhythmus, dessen bildnerische kraft zur darstellung / 726 apollinischer zustaende entwickelt wurde. die musik des / 727 apollo war dorische architektonik in toenen, aber in nur angedeuteten / 728 toenen, wie sie der kithara zu eigen sind. behutsam ist / 729 gerade das element als unapollinisch, ferngehalten, das den / 730 charakter der dionysischen musik und damit der musik ueberhaupt / 731 ausmacht, die erschuetternde gewalt des tones, der einheitliche / 732 strom des melos und die durchaus unvergleichliche welt / 733 der harmonie. im dionysischen dithyrambus wird der mensch / 734 zur hoechsten steigerung aller seiner symbolischen faehigkeiten / 735 gereizt; etwas nie empfundenes draengt sich zur aeusserung, die / 736 vernichtung des schleiers der maja, das einssein als genius der / 737 gattung, ja der natur. jetzt soll sich das wesen der natur / 738 symbolisch ausdruecken; eine neue welt der symbole ist noethig / 739 einmal die ganze leibliche symbolik, nicht nur die symbolik des / 740 mundes, des gesichts, des wortes, sondern die volle, alle glieder / 741 $V00 C0030 L 1 742 rhythmisch bewegende tanzgebaerde. sodann wachsen die anderen / 743 symbolischen kraefte, die der musik, in rhythmik, dynamik, / 744 und harmonie, ploetzlich ungestuem. um diese gesammtentfesselung / 745 aller symbolischen kraefte zu fassen muss der mensch bereits / 746 auf jener hoehe der selbstentaeusserung angelangt sein, die in / 747 jenen kraeften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische / 748 dionysusdiener wird somit nur von seinesgleichen verstanden. / 749 mit welchem erstaunen musste der apollinische grieche / 750 auf ihn blicken. mit einem erstaunen, das um so groesser war, als / 751 sich ihm das grausen beimischte, dass ihm jenes alles doch eigentlich / 752 so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches bewusstsein nur / 753 wie ein schleier diese dionysische welt vor ihm verdecke. / 754 um dies zu begreifen, muessen wir jenes kunstvolle gebaeude / 755 der apollinischen cultur gleichsam stein um stein abtragen, / 756 bis wir die fundamente erblicken, auf die es begruendet / 757 ist. hier gewahren wir nun zverst die herrlichen olympischen / 758 goettergestalten, die auf den giebeln dieses gebaeudes stehen / 759 und deren thaten in weithin leuchtenden reliefs dargestellt, / 760 seine friese zieren. wenn unter ihnen auch apollo steht, als / 761 eine einzelne gottheit neben anderen und ohne den anspruch / 762 einer ersten stellung, so dverfen wir uns dadurch nicht beirren / 763 lassen. derselbe trieb, der sich in apollo versinnlichte, hat ueberhaupt / 764 jene ganze olympische welt geboren, und in diesem sinne / 765 darf uns apollo als uater derselben gelten. welches war das ungeheure / 766 bedverfniss aus dem eine so leuchtende gesellschaft olympischer / 767 wesen entsprang. / 768 wer, mit einer anderen religion im herzen, an diese olympier / 769 herantritt und nun nach sittlicher hoehe, ja heiligkeit, nach / 770 unleiblicher vergeistigung, nach erbarmungsvollen liebesblicken / 771 bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttaeuscht ihnen bald / 772 den ruecken kehren muessen. hier erinnert nichts an askese, / 773 $V00 C0031 L 1 774 geistigkeit und pflicht: hier redet nur ein ueppiges, ja triumphierendes / 775 dasein zu uns, in dem alles vorhandene vorgoettlicht ist, / 776 gleichuiel ob es gut oder boese ist. und so mag der beschaver recht / 777 betroffen vor diesem phantastischen ueberschwang des lebens / 778 stehn, um sich zu fragen, mit welchem zaubertrank im leibe / 779 diese uebermuethigen menschen das leben genossen haben moegen / 780 dass, wohin sie sehen, helena, das in suesser sinnlichkeit schwebende / 781 idealbild ihrer eignen existenz, ihnen entgegenlacht. / 782 diesem bereits rueckwaerts gewandten beschaver muessen wir aber / 783 zurufen: geh nicht von dannen, sondern hoere erst, was die / 784 griechische volksweisheit von diesem selben leben aussagt, das / 785 sich hier mit so unerklaerlicher heiterkeit vor dir ausbreitet. es / 786 geht die alte sage, dass koenig midas lange zeit nach dem weisen / 787 silen, dem begleiter des dionysus, im walde gejagt habe, / 788 ohne ihn zu fangen. als er ihm endlich in die haende gefallen ist, / 789 fragt der koenig, was fuer den menschen das allerbeste und allervorzueglichste / 790 sei. starr und unbeweglich schweigt der daemon; / 791 bis er, durch den koenig gezwungen, endlich unter gellem lachen / 792 in diese worte ausbricht: elendes eintagsgeschlecht, des zufalls / 793 kinder und der muehsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was / 794 nicht zu hoeren / 795 fuer dich das erspriesslichste ist. das allerbeste ist fuer dich gaenzlich unerr / 796 nicht zu / 797 sein, nichts zu sein. das zweitbeste aber ist fuer dich bald / 798 zu sterben. / 799 wie verhaelt sich zu dieser volksweisheit die olympische / 800 goetterwelt. wie die entzueckungsreiche uision des gefolterten / 801 maertyrers zu seinen peinigungen. / 802 jetzt oeffnet sich uns gleichsam der olympische zauberberg / 803 und zeigt uns seine wurzeln. der grieche kannte und empfand / 804 die schrecken und entsetzlichkeiten des daseins: um ueberhaupt / 805 leben zu koennen, musste er vor sie hin die glaenzende traumgeburt / 806 der olympischen stellen. jenes ungeheure misstrauen gegen / 807 die titanischen maechte der natur, jene ueber allen erkenntnissen / 808 erbarmungslos thronende moira, jener geier des grossen menschenfreundes / 809 $V00 C0032 L 1 810 prometheus, jenes schreckensloos des weisen / 811 oedipus, jener geschlechtsfluch der atriden, der orest zum / 812 muttermorde zwingt, kurz jene ganze philosophie des waldgottes, / 813 sammt ihren mythischen exempeln, an der die schwermuethigen / 814 etrurier zugrunde gegangen sind wurde von den / 815 griechen durch jene kuenstlerische mittelwelt der olympier / 816 fortwaehrend von neuem ueberwunden, jedenfalls verhuellt und / 817 dem anblick entzogen. um leben zu koennen, mussten die griechen / 818 diese goetter, aus tiefster noethigung schaffen: welchen hergang / 819 wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der urspruenglichen / 820 titanischen goetterordnung des schreckens durch jenen apollinischen / 821 schoenheitstrieb in langsamen uebergaengen die olympische / 822 goetterordnung der freude entwickelt wurde: wie rosen / 823 aus dornigem gebuesch hervorbrechen. wie anders haette jenes so / 824 reizbar empfindende, so ungestuem begehrende, zum leiden / 825 so einzig befaehigte volk das dasein ertragen koennen, wenn ihm / 826 nicht dasselbe, von einer hoeheren glorie umflossen, in seinen / 827 goettern gezeigt worden waere. derselbe trieb, der die kunst ins / 828 leben ruft, als die zum weiterleben verfuehrende ergaenzung und / 829 vollendung des daseins, liess auch die olympische welt entstehn, / 830 in der sich der hellenische wille einen verklaerenden spiegel / 831 vorhielt. so rechtfertigen die goetter das menschenleben, indem / 832 sie es selbst leben: die allein genuegende theodizee gottesrechtfertigung. das d / 833 dem hellen sonnenscheine solcher goetter wird als das an / 834 sich erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche schmerz / 835 der homerischen menschen bezieht sich auf das abscheiden aus / 836 ihm, vor allem auf das baldige abscheiden: so dass man jetzt von / 837 ihnen, mit umkehrung der silenischen weisheit, sagen koennte, / 838 das allerschlimmste sei fuer sie, bald zu sterben, das zweitschlimmste, / 839 ueberhaupt einmal zu sterben. wenn die klage einmal / 840 ertoent, so klingt sie wieder vom kurzlebenden achilles, von / 841 dem blaettergleichen wechsel und wandel des menschengeschlechts, / 842 von dem untergang der heroenzeit. es ist des groessten / 843 helden nicht unwuerdig, sich nach dem weiterleben zu sehnen, / 844 $V00 C0033 L 1 845 sei es selbst als tageloehner. so ungestuem verlangt, auf der apollinischen / 846 stufe, der wille nach diesem dasein, so eins fuehlt / 847 sich der homerische mensch mit ihm, dass selbst die klage zu / 848 seinem preisliede wird. / 849 hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den / 850 neveren menschen so sehnsuechtig angeschaute harmonie, ja einheit / 851 des menschen mit der natur, fuer die schiller das kunstwort / 852 naiu in geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, / 853 sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher zustand / 854 ist, dem wir an der pforte jeder cultur als einem paradies der / 855 menschheit, begegnen muessten: dies konnte nur eine zeit / 856 glauben, die den emile rousseaus sich auch als kuenstler zu denken / 857 suchte und in homer einen solchen am herzen der natur / 858 erzogenen kuenstler emile gefunden zu haben waehnte. wo uns / 859 das naiue in der kunst begegnet, haben wir die hoechste wirkung / 860 der apollinischen cultur zu erkennen: welche immer erst / 861 ein titanenreich zu stverzen und ungethueme zu toedten hat und / 862 durch kraeftige wahnvorspiegelungen und lustvolle illusionen / 863 ueber eine schreckliche tiefe der weltbetrachtung und reizbarste / 864 leidensfaehigkeit sieger geworden sein muss. aber wie selten / 865 wird das naiue, jenes voellige verschlungensein in der schoenheit / 866 der scheines, erreicht. wie unaussprechbar erhaben ist deshalb / 867 homer, der sich, als einzelner, zu jener apollinischen volkscultur / 868 verhaelt wie der einzelne traumkuenstler zur traumbefaehigung / 869 des volks und der natur ueberhaupt. die homerische / 870 naiuetaet ist nur als der vollkommene sieg der apollinischen / 871 illusion zu begreifen: es ist dies eine solche illusion, wie sie die / 872 natur zur erreichung ihrer absichten so haeufig verwendet. das / 873 wahre ziel wird durch ein wahnbild verdeckt: nach diesem / 874 strecken wir die haende aus, und jenes erreicht die natur durch / 875 unsre taeuschung. in den griechen wollte der wille sich selbst / 876 in der verklaerung des genius und der kunstwelt anschauen; um / 877 sich zu verherrlichen, mussten seine geschoepfe sich selbst als verherrlichenswe / 878 empfinden, sie mussten sich in einer hoeheren / 879 $V00 C0034 L 1 880 sphaere wiedersehn, ohne dass diese vollendete welt der anschauung / 881 als imperatiu oder als vorwurf wirkte. dies ist die sphaere / 882 der schoenheit, in der sie ihre spiegelbilder, die olympischen, / 883 sahen. mit dieser schoenheitsspiegelun kaempfte der hellenische / 884 wille gegen das dem kuenstlerischen correlatiue talent zum / 885 leiden und zur weisheit des leidens: und als denkmal seines / 886 sieges steht homer vor uns, der naiue kuenstler. / 887 ueber diesen naiuen kuenstler giebt uns die traumanalogie / 888 einige belehrung. wenn wir uns den traeumenden vergegenwaertigen, / 889 wie er, mitten in der illusion der traumwelt, und ohne / 890 sie zu stoeren, sich zuruft: es ist ein traum, ich will ihn weitertraeumen, / 891 wenn wir hieraus auf eine tiefe innere lust des traumanschauens / 892 zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um ueberhaupt / 893 mit dieser inneren lust am schauen traeumen zu koennen, / 894 den tag und seine schreckliche zudringlichkeit voellig vergessen / 895 haben muessen: so dverfen wir uns alle diese erscheinungen etwa / 896 in folgender weise, unter der leitung des traumdeutenden / 897 apollo, interpretiren. so gewiss von den beiden haelften des / 898 lebens, der wachen und der traeumenden haelfte, uns die erstere / 899 als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, wuerdigere, lebenswerthere / 900 ja allein gelebte duenkt: so moechte ich doch, bei allem / 901 anscheine einer paradoxie, fuer jenen geheimnissvollen grund / 902 unseres wesens, dessen erscheinung wir sind, gerade die entgegengesetzte / 903 werthschaetzung des traumes behaupten. je mehr / 904 ich naemlich in der natur jene allgewaltigen kunsttriebe und in / 905 ihnen eine inbruenstige sehnsucht zum schein, zum erloestwerden / 906 durch den schein gewahr werde, um so mehr fuehle ich mich zu / 907 der metaphysischen annahme gedraengt, dass das wahrhaft / 908 seiende und ureine als das ewig leidende und widerspruchsvolle, / 909 zugleich die entzueckende uision, den lustvollen schein, zu / 910 seiner steten erloesung braucht: welchen schein wir, voellig in ihm / 911 $V00 C0035 L 1 912 befangen und aus ihm bestehend, als das wahrhaft nichtseiende, / 913 das heisst als ein fortwaehrendes werden in zeit, raum und causalitaet / 914 mit anderen worten: als empirische realitaet zu empfinden / 915 genoethigt sind. sehen wir also einmal von unsrer eignen realitaet / 916 fuer einen augenblick ab, fassen wir unser empirisches dasein, / 917 wie das der welt ueberhaupt, als eine in jedem moment erzeugte / 918 vorstellung des ureinen, so muss uns jetzt der traum / 919 als der schein des scheins, somit als eine noch hoehere / 920 befriedigung der urbegierde nach dem schein hin gelten. aus / 921 diesem selben grunde hat der innerste kern der natur jene unbeschreibliche / 922 lust an dem naiuen kuenstler und dem naiuen / 923 kunstwerke, das gleichfalls nur schein des scheins ist. raffael, / 924 selbst einer jener unsterblichen naiuen, hat uns in einem / 925 gleichnissartigen gemaelde jenes depotenziren des scheins zum / 926 schein, den urprozess des naiuen kuenstlers und zugleich der / 927 apollinischen cultur dargestellt. in seiner transfiguration / 928 zeigt uns die untere haelfte, mit dem besessenen knaben, / 929 den verzweifelnden traegern, den rathlos geaenstigten juengern, / 930 die widerspiegelung des ewigen urschmerzes, des einzigen / 931 grundes der welt: der schein ist hier widerschein des ewigen / 932 widerspruchs, des uaters der dinge. aus diesem schein steigt / 933 nun, wie ein ambrosischer duft, eine uisionsgleiche neue scheinwelt / 934 empor, von der jene im ersten schein befangenen nichts / 935 sehen ein leuchtendes schweben in reinster wonne und / 936 schmerzlosem, aus weiten augen strahlendem anschauen. hier / 937 haben wir, in hoechster kunstsymbolik, jene apollinische schoenheitswelt / 938 und ihren untergrund, die schreckliche weisheit des / 939 silen, vor unseren blicken und begreifen durch intuition ihre / 940 gegenseitige nothwendigkeit. apollo aber tritt uns wiederum als / 941 die vergoettlichung des principii indiuiduationis entgegen, in dem / 942 allein das ewig erreichte ziel des ureinen, seine erloesung durch / 943 den schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen gebaerden, / 944 wie die ganze welt der qual noethig ist, damit durch sie der einzelne / 945 zur erzeugung der erloesenden uision gedraengt werde und / 946 $V00 C0036 L 1 947 dann, ins anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem / 948 schwankenden kahne, inmitten des meeres, sitze. / 949 diese vergoettlichung der indiuiduation kennt, wenn sie / 950 ueberhaupt imperatiuisch und vorschriften gebend gedacht wird, / 951 nur ein gesetz, das indiuiduum, das heisst die einhaltung der grenzen / 952 des indiuiduums, das maass im hellenischen sinne. apollo, / 953 als ethische gottheit, fordert von den seinigen das maass und, / 954 um es einhalten zu koennen, selbsterkenntniss. und so laueft neben / 955 der aesthetischen nothwendigkeit der schoenheit die forderung / 956 des erkenne dich selbst und des nicht zuuiel her, waehrend / 957 selbstueberhebung und uebermaass als die eigentlich feindseligen / 958 daemonen der nichtapollinischen sphaere, daher als eigenschaften / 959 der vorapollinischen zeit, des titanenzeitalters, und der / 960 ausserapollinischen welt, das heisst der barbarenwelt, erachtet wurden. / 961 wegen seiner titanenhaften liebe zu den menschen musste / 962 prometheus von den geiern zerrissen werden, seiner uebermaessigen / 963 weisheit halber, die das raethsel der sphinx loeste, musste / 964 oedipus in einen verwirrenden strudel von unthaten stverzen: / 965 so interpretierte der delphische gott die griechische vergangenheit. / 966 titanenhaft und barbarisch duenkte dem apollinischen / 967 griechen auch die wirkung, die das dionysische erregte: / 968 ohne dabei sich verhehlen zu koennen, dass er selbst doch zugleich / 969 auch innerlich mit jenen gestverzten titanen und heroen verwandt / 970 sei. ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes dasein, / 971 mit aller schoenheit und maessigung, ruhte auf einem verhuellten / 972 untergrunde des leidens und der erkenntniss der ihm wieder / 973 durch jenes dionysische aufgedeckt wurde. und siehe. apollo / 974 konnte nicht ohne dionysus leben. das titanische und das / 975 barbarische war zuletzt eine ebensolche nothwendigkeit wie / 976 das apollinische. und nun denken wir uns, wie in diese auf den / 977 schein und die maessigung gebaute und kuenstlich gedaemmte welt / 978 der ekstatische thon der dionysusfeier in immer lockenderen zauberweisen / 979 hineinklang, wie in diesen das ganze uebermaass / 980 $V00 C0037 L 1 981 der natur in lust, leid und erkenntniss bis zum durchdringenden / 982 schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem daemonischen / 983 volksgesange gegenueber der psalmodirende kuenstler des apollo, / 984 mit dem gespensterhaften harfenklange, bedeuten konnte. die / 985 musen der kuenste des scheins verblassten vor einer kunst, die / 986 in ihrem rausche die wahrheit sprach, die weisheit des silen / 987 rief wehe wehe aus gegen die heiteren olympier. das indiuiduum, / 988 mit allen seinen grenzen und maassen ging hier in der / 989 selbstvergessenheit der dionysischen zustaende unter und vergass / 990 die apollinischen satzungen. das uebermaass enthuellte / 991 sich als wahrheit, der widerspruch, die aus schmerzen geborene / 992 wonne sprach von sich aus dem herzen der natur heraus. und / 993 so war ueberall dort, wo das dionysische durchdrang, das apollinische / 994 aufgehoben und vernichtet. aber ebenso gewiss ist, dass / 995 dort, wo der erste ansturm aufgehalten wurde, das ansehen und / 996 die majestaet des delphischen gottes starrer und drohender als je / 997 sich auesserte. ich vermag naemlich den dorischen staat und / 998 die dorische kunst mir nur als ein fortgesetztes kriegslager des / 999 apollinischen zu erklaeren nur in einem unausgesetzten widerstreben / 1 gegen das titanisch barbarisch wesen des dionysischen / 1001 konnte eine so trotzig sproede, mit bollwerken umschlossene / 1002 kunst, eine so kriegsgemaesse und herbe erziehung, ein so grausames / 1003 und ruecksichtsloses staatswesen von laengerer daver sein. / 1004 bis zu diesem punkte ist des weiteren ausgefuert worden, / 1005 was ich am eingange dieser abhandlung bemerkte: wie das / 1006 dionysische und das apollinische, in immer neuen aufeinanderfolgenden / 1007 geburten und sich gegenseitig steigernd, das hellenische / 1008 wesen beherrscht haben: wie aus dem erzenen zeitalter, mit / 1009 seinen titanenkaempfen und seiner herben volksphilosophie, sich / 1010 unter dem walten des apollinischen schoenheitstriebes die homerische / 1011 welt entwickelt, wie diese naiue herrlichkeit wieder / 1012 von dem einbrechenden strome des dionysischen verschlungen / 1013 wird und wie dieser neuen macht gegenueber sich das apollinische / 1014 zur starren majestaet der dorischen kunst und weltbetrachtung / 1015 $V00 C0038 L 1 1016 erhebt. wenn auf diese weise die aeltere hellenische geschichte, / 1017 im kampf jener zwei feindseligen principien in uier grosse / 1018 kunststufen zerfaellt: so sind wir jetzt gedraengt, weiter nach dem / 1019 letzten plane dieses werdens und treibens zu fragen, falls uns / 1020 nicht etwa die letzterreichte periode, die der dorischen kunst, als / 1021 die spitze und absicht jener kunsttriebe gelten sollte: und hier / 1022 bietet sich unseren blicken das erhabene und hochgepriesene / 1023 kunstwerk der attischen tragoedie und des dramatischen / 1024 dithyrambus, als das gemeinsame ziel beider triebe, deren / 1025 geheimnissvolles ehebuendniss nach langem vorhergehendem / 1026 kampfe, sich in einem solchen kinde das zugleich antigone / 1027 und kassandra ist verherrlicht hat. / 1028 wir nahen uns jetzt dem eigentlichen ziele unsrer untersuchung, / 1029 die auf die erkenntniss des dionysisch apollinischen / 1030 genius und seines kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle / 1031 verstaendniss jenes einheitsmysteriums gerichtet ist. hier fragen / 1032 wir nun zunaechst, wo jener neue keim sich zverst in der hellenischen / 1033 welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur tragoedie / 1034 und zum dramatischen dithyrambus entwickelt. hierueber giebt / 1035 uns das alterthum selbst bildlich aufschluss, wenn es als die uruaeter / 1036 und fackeltraeger der griechischen dichtung homer und / 1037 archilochus auf bildwerken, gemmen und so weiter / 1038 nebeneinanderstellt, in der sicheren empfindung, dass nur diese beiden / 1039 gleich voellig originalen naturen, von denen aus ein feverstrom / 1040 auf die gesammte griechische nachwelt fortfliesse, zu erachten / 1041 seien. homer, der in sich versunkene greise traeumer, der typus / 1042 des apollinischen, naiuen kuenstlers, sieht nun staunend den / 1043 leidenschaftlichen kopf des wild durchs dasein getriebenen / 1044 kriegerischen musendieners archilochus: und die nevere aesthetik / 1045 wusste nur deutend hinzuzufuegen, dass hier dem objectiuen / 1046 kuenstler der erste subjectiue entgegengestellt sei. uns ist mit / 1047 dieser deutung wenig gedient, weil wir den subjectiuen kuenstler / 1048 $V00 C0039 L 1 1049 nur als schlechten kuenstler kennen und in jeder art und hoehe / 1050 der kunst vor allem und zverst besiegung des subjectiuen erloesung / 1051 vom ich und stillschweigen jedes indiuiduellen willens / 1052 und geluestens fordern, ja ohne objectiuitaet ohne reines interesseloses / 1053 anschauen nie an die geringste wahrhaft kuenstlerische / 1054 erzeugung glauben koennen. darum muss unsre aesthetik erst / 1055 jenes problem loesen, wie der lyriker als kuenstler moeglich ist: / 1056 er, der nach der erfahrung aller zeiten immer ich sagt und / 1057 die ganze chromatische tonleiter seiner leidenschaften und begehrungen / 1058 vor uns absingt. gerade dieser archilochus erschreckt / 1059 uns, neben homer, durch den schrei seines hasses und hohnes, / 1060 durch die trunknen ausbrueche seiner begierde; ist er, der erste / 1061 subjectiu genannte kuenstler, nicht damit der eigentliche nichtkuenstler. / 1062 woher aber dann die verehrung, die ihm, dem dichter, / 1063 gerade auch das delphische orakel, der herd der objectiuen / 1064 kunst, in sehr merkwuerdigen ausspruechen erwiesen hat. / 1065 ueber den prozess seines dichtens hat uns schiller durch / 1066 eine ihm selbst unerklaerliche, doch nicht bedenklich scheinende / 1067 psychologische beobachtung licht gebracht; er gesteht naemlich, / 1068 als den vorbereitenden zustand vor dem actus des dichtens / 1069 nicht etwa eine reihe von bildern, mit geordneter causalitaet der / 1070 gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern uielmehr / 1071 eine musikalische stimmung. die empfindung / 1072 ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren gegenstand; / 1073 dieser bildet sich erst spaeter. eine gewisse musikalische gemuethsstimmung / 1074 geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische / 1075 idee. nehmen wir jetzt das wichtigste phaenomen der / 1076 ganzen antiken lyrik hinzu, die ueberall als natverlich geltende / 1077 vereinigung, ja identitaet des lyrikers mit dem musiker / 1078 der gegenueber unsre nevere lyrik wie ein goetterbild / 1079 ohne kopf erscheint, so koennen wir jetzt, auf grund unsrer / 1080 frueher dargestellten aesthetischen metaphysik, uns in folgender / 1081 weise den lyriker erklaeren. er ist zverst, als dionysischer kuenstler, / 1082 gaenzlich mit dem ureinen, seinem schmerz und widerspruch, / 1083 $V00 C0040 L 1 1084 eins geworden und producirt das abbild dieses ureinen / 1085 als musik, wenn anders diese mit recht eine wiederholung der / 1086 welt und ein zweiter abguss derselben genannt worden ist; jetzt / 1087 aber wird diese musik ihm wieder, wie in einem gleichnissartigen / 1088 traumbilde, unter der apollinischen traumeinwirkung, / 1089 sichtbar. jener bild und begrifflose widerschein des / 1090 urschmerzes in der musik, mit seiner erloesung im scheine, erzeugt / 1091 jetzt eine zweite spiegelung, als einzelnes gleichnis oder / 1092 exempel. seine subjectiuitaet hat der kuenstler bereits in dem / 1093 dionysischen prozess aufgegeben: das bild, das ihm jetzt seine / 1094 einheit mit dem herzen der welt zeigt, ist eine traumscene die / 1095 jenen urwiderspruch und urschmerz, sammt der urlust des / 1096 scheines, versinnlicht. das ich des lyrikers toent also aus dem / 1097 abgrunde des seins: seine subjectiuitaet im sinne der neveren / 1098 aesthetiker ist eine einbildung. wenn archilochus, der erste / 1099 lyriker der griechen, seine rasende liebe und zugleich seine verachtung / 1100 den toechtern des lykambes kundgiebt so ist es nicht / 1101 seine leidenschaft, die vor uns in orgiastischem taumel tanzt: / 1102 wir sehen dionysus und die maenaden, wir sehen den berauschten / 1103 schwaermer archilochus zum schlafe niedergesunken wie ihn / 1104 uns euripides in den bacchen beschreibt, den schlaf auf hoher / 1105 alpentrift, in der mittagssonne: und jetzt tritt apollo an ihn / 1106 heran und beruehrt ihn mit dem lorbeer. die dionysisch musikalische / 1107 verzauberung des schlaefers sprueht jetzt gleichsam bilderfunken / 1108 um sich, lyrische gedichte, die in ihrer hoechsten entfaltung / 1109 tragoedien und dramatische dithyramben heissen. / 1110 der plastiker und zugleich der ihm verwandte epiker ist / 1111 in das reine anschauen der bilder versunken. der dionysische / 1112 musiker ist ohne jedes bild voellig nur selbst urschmerz und urwiderklang / 1113 desselben. der lyrische genius fuehlt aus dem mystischen / 1114 selbstentaeusserungs und einheitszustande eine bilder und / 1115 gleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andere faerbung, / 1116 causalitaet und schnelligkeit hat als jene welt des plastikers und / 1117 epikers. waehrend der letztgenannte in diesen bildern, und nur / 1118 $V00 C0041 L 1 1119 in ihnen, mit freudigem behagen lebt und nicht muede wird, sie / 1120 bis auf die kleinsten zuege hin liebevoll anzuschauen, waehrend / 1121 selbst das bild des zvernenden achilles fuer ihn nur ein bild ist, / 1122 dessen zvernenden ausdruck er mit jener traumlust am scheine / 1123 geniesst so dass er, durch diesen spiegel des scheines, gegen / 1124 das einswerden und zusammenschmelzen mit seinen gestalten / 1125 geschuetzt ist, so sind dagegen die bilder des lyrikers nichts / 1126 als er selbst und gleichsam nur verschiedene obkektiuationen / 1127 von ihm, weshalb er als bewegender mittelpunkt jener welt ich / 1128 sagen darf: nur ist diese ichheit nicht dieselbe wie die des wachen, / 1129 empirisch realen menschen, sondern die einzige ueberhaupt wahrhaft / 1130 seiende und ewige, im grunde der dinge ruhende ichheit, / 1131 durch deren abbilder der lyrische genius bis auf jenen grund / 1132 der dinge hindurchsieht. nun denken wir uns einmal, wie er / 1133 unter diesen abbildern auch sich selbst als nichtgenius erblickt, / 1134 das heisst sein subjekt, das ganze gewuehl subjectiver auf ein / 1135 bestimmtes, ihm real duenkendes ding gerichteter leidenschaften / 1136 und willensregungen; wenn es jetzt scheint, als ob der lyrische / 1137 genius und der mit ihm verbundene nichtgenius eins waere und / 1138 als ob der erstere von sich selbst jenes woertchen ich spraeche, / 1139 so wird uns jetzt dieser schein nicht mehr verfuehren koennen, wie / 1140 er allerdings diejenigen verfuehrt hat, die den lyriker als den / 1141 subjectiuen dichter bezeichnet haben. in wahrheit ist archilochus, / 1142 der leidenschaftlich entbrannte, liebende und hassende mensch, / 1143 nur eine uision des genius, der bereits nicht mehr archilochus, / 1144 sondern weltgenius ist und der seinen urschmerz in jenem / 1145 gleichnisse vom menschen archilochus symbolisch ausspricht: / 1146 waehrend jener subjectiu wollende und begehrende mensch archilochus / 1147 ueberhaupt nie und nimmer dichter sein kann. es ist aber / 1148 gar nicht noethig dass der lyriker gerade nur das phaenomen des / 1149 menschen archilochus vor sich sieht als widerschein des ewigen / 1150 seins, und die tragoedie beweist, wie weit sich die uisionswelt / 1151 des lyrikers von jenem allerdings zunaechst stehenden phaenomen / 1152 entfernen kann. / 1153 $V00 C0042 L 1 1154 schopenhaver, der sich die schwierigkeit, die der lyriker / 1155 fuer die philosophische kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt / 1156 hat, glaubt einen ausweg gefunden zu haben, den ich nicht / 1157 mit ihm gehen kann, waehrend ihm allein, in seiner tiefsinnigen / 1158 metaphysik der musik, das mittel in die hand gegeben war, mit / 1159 dem jene schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte: / 1160 wie ich dies, in seinem geiste und zu seiner ehre, hier gethan zu / 1161 haben glaube. dagegen bezeichnet er als das eigenthuemliche / 1162 wesen des liedes folgendes: / 1163 es ist das subjekt des willens, das heisst das eigene wollen, / 1164 was das bewusstsein des singenden fuellt, oft als ein entbundenes, / 1165 befriedigtes wollen freude wohl noch oefter aber als ein gehemmtes / 1166 traver immer als affect leidenschaft, bewegter gemuetszustand. / 1167 neben diesem jedoch und zugleich damit wird / 1168 durch den anblick der umgebenden natur der singende sich / 1169 seiner bewusst als subjekts des reinen, willenlosen erkennens, / 1170 dessen unerschuetterliche, selige ruhe nunmehr in contrast tritt / 1171 mit dem drange des immer beschraenkten, immer noch dverftigen / 1172 wollens: die empfindung dieses contrastes dieses wechselspieles / 1173 ist eigentlich, was sich im ganzen des liedes ausspricht und was / 1174 ueberhaupt den lyrischen zustand ausmacht. in diesem tritt gleichsam / 1175 das reine erkennen zu uns heran, um uns vom wollen und / 1176 seinem drange zu erloesen: wir folgen; doch nur auf augenblicke: / 1177 immer von neuem entreisst das wollen, die erinnerung an / 1178 unsere persoenlichen zwecke, uns der ruhigen beschauung; aber / 1179 auch immer wieder entlockt uns dem wollen die naechste schoene / 1180 umgebung, in welcher sich die reine willenlose erkenntniss uns / 1181 darbietet. darum geht im liede und der lyrischen stimmung das / 1182 wollen das persoenliche interesse der zwecke und das reine / 1183 anschauen der sich darbietenden umgebung wundersam gemischt / 1184 durcheinander: es werden beziehungen zwischen beiden / 1185 gesucht und imaginirt die subjectiue stimmung, die affection / 1186 des willens, theilt der angeschauten umgebung und diese wiederum / 1187 jener ihre farbe im reflex mit: von diesem ganzen so gemischten / 1188 $V00 C0043 L 1 1189 und getheilten gemuethszustande ist das aechte lied der / 1190 abdruck. / 1191 wer vermoechte in dieser schilderung zu verkennen, dass hier / 1192 die lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im sprunge / 1193 und selten zum ziele kommende kunst charakterisirt wird, ja / 1194 als eine halbkunst, deren wesen darin bestehen solle, dass / 1195 das wollen und das reine anschauen, das heisst der unaesthetische und / 1196 der aestetische zustand, wundersam durcheinandergemisch / 1197 seien. wir behaupten uielmehr, dass der ganze gegensatz, nach / 1198 dem wie nach einem werthmesser auch noch schopenhaver die / 1199 kuenste eintheilt der des subjectiuen und des objectiuen ueberhaupt / 1200 in der aesthetik ungehoerig ist, da das subjekt, das / 1201 wollende und seine egoistischen zwecke foerdernde indiuiduum, nur / 1202 als gegner, nicht als ursprung der kunst gedacht werden kann. / 1203 insofern aber das subjekt kuenstler ist, ist es bereits von seinem / 1204 indiuiduellen willen erloest und gleichsam medium geworden, / 1205 durch das hindurch das eine wahrhaft seiende subjekt seine erloesung / 1206 im scheine feiert. denn dies muss uns vor allem, zu unserer / 1207 erniedrigung und erhoehung, deutlich sein, dass die ganze / 1208 kunstkomoedie durchaus nicht fuer uns, etwa unsrer besserung und / 1209 bildung wegen, aufgefuehrt wird, ja dass wir ebensowenig die / 1210 eigentlichen schoepfer jener kunstwelt sind: wohl aber dverfen / 1211 wir von uns selbst annehmen, dass wir fuer den wahren schoepfer / 1212 derselben schon bilder und kuenstlerische projectionen sind und / 1213 in der bedeutung von kunstwerken unsre hoechste wuerde haben / 1214 denn nur als aesthetisches phaenomen ist das dasein / 1215 und die welt ewig gerechtfertigt, waehrend freilich / 1216 unser bewusstsein ueber diese unsre bedeutung kaum ein andres / 1217 ist, als es die auf leinwand gemalten krieger von der auf ihr dargestellten / 1218 schlacht haben. somit ist unser ganzes kunstwissen / 1219 im grunde ein voellig illusorisches, weil wir als wissende mit / 1220 jenem wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger / 1221 schoepfer und zuschaver jener kunstkomoedie, einen ewigen genuss / 1222 bereitet. nur soweit der genius im actus der kuenstlerischen / 1223 $V00 C0044 L 1 1224 zeugung mit jenem urkuenstler der welt verschmilzt, weiss / 1225 er etwas ueber das ewige wesen der kunst; denn in jenem zustande / 1226 ist er, wunderbarerweise, dem unheimlichen bild des / 1227 maehrchens gleich, das die augen drehn und sich selber anschaun / 1228 kann jetzt ist er zugleich subjekt und objekt, zugleich dichter, / 1229 schauspieler und zuschaver. / 1230 in betreff des archilochus hat die gelehrte forschung entdeckt, / 1231 dass er das volkslied in die literatur eingefuehrt / 1232 habe und dass ihm dieser that halber jene einzige stellung / 1233 neben homer in der allgemeinen schaetzung der griechen zukomme. / 1234 was aber ist das volkslied im gegensatz zu dem voellig / 1235 apollinischen epos. was anders als das perpetuum uestigium / 1236 einer vereinigung des apollinischen und des dionysischen; seine / 1237 ungeheure, ueber alle voelker sich erstreckende und in immer neuen / 1238 geburten sich steigernde verbreitung ist uns ein zeugniss dafuer, / 1239 wie stark jener kuenstlerische doppeltrieb der natur ist: der in / 1240 analoger weise seine spuren im volkslied hinterlaesst, wie die / 1241 orgiastischen bewegungen eines volkes sich in seiner musik verewigen. / 1242 ja es muesste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an / 1243 volksliedern reich productiue periode zugleich auf das staerkste / 1244 durch dionysische stroemungen erregt worden ist, welche wir / 1245 immer als untergrund und voraussetzung des volksliedes zu / 1246 betrachten haben. / 1247 das volkslied aber gilt und zuallernaechst als musikalischer / 1248 weltspiegel, als urspruengliche melodie, die sich jetzt eine parallele / 1249 traumerscheinung sucht und diese in der dichtung ausspricht. / 1250 die melodie ist also das erste und allgemeine, / 1251 das deshalb auch mehrere objectiuationen in mehreren texten, / 1252 an sich erleiden kann. sie ist auch das bei weitem wichtigere und / 1253 nothwendigere in der naiuen schaetzung des volkes. die melodie / 1254 gebiert die dichtung aus sich, und zwar immer wieder von / 1255 $V00 C0045 L 1 1256 neuem; nichts anderes will uns die strophenform des / 1257 volksliedes sagen: welches phaenomen ich immer mit erstaunen / 1258 betrachtet habe, bis ich endlich diese erklaerung fand. / 1259 wer eine sammlung von volksliedern, zum beispiel des knaben wunderhorn, / 1260 auf diese theorie hin ansieht, der wird unzaehlige beispiele / 1261 finden, wie die fortwaehrend gebaerende melodie bilderfunken um / 1262 sich aussprueht: die in ihrer buntheit, ihrem jaehen wechsel, ja / 1263 ihrem tollen sichueberstverzen eine dem epischen scheine und seinem / 1264 ruhigen fortstroemen wildfremde kraft offenbaren. vom / 1265 standpunkte des epos ist diese ungleiche und unregelmaessige / 1266 bilderwelt der lyrik einfach zu verurtheilen und dies haben / 1267 gewiss die feierlichen epischen rhapsoden der apollinischen feste / 1268 im zeitalter des terpander gethan. / 1269 in der dichtung des volksliedes sehen wir also die sprache / 1270 auf das staerkste angespannt, die musik nachzuahmen: / 1271 deshalb beginnt mit archilochus eine neue welt der poesie, die / 1272 der homerischen in ihrem tiefsten grunde widerspricht. hiermit / 1273 haben wir das einzig moegliche verhaeltniss zwischen poesie und / 1274 musik, wort und thon bezeichnet das wort, das bild, der begriff / 1275 sucht einen der musik analogen ausdruck und erleidet jetzt die / 1276 gewalt der musik an sich. in diesem sinne dverfen wir in der / 1277 sprachgeschichte des griechischen volkes zwei hauptstroemungen / 1278 unterscheiden, je nachdem die sprache die erscheinungs und / 1279 bilderwelt oder die musikwelt nachahmte. man denke nur einmal / 1280 tiefer ueber die sprachliche differenz der farbe, des syntaktischen / 1281 baus, des wortmaterials bei homer und pindar nach, / 1282 um die bedeutung dieses gegensatzes zu begreifen; ja es wird / 1283 einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen homer und / 1284 pindar die orgiastischen floetenweisen des olympus / 1285 erklungen sein muessen, die noch im zeitalter des aristoteles, / 1286 inmitten einer unendlich entwickelteren musik, zu trunkner begeisterung / 1287 hinrissen und gewiss in ihrer urspruenglichen wirkung / 1288 alle dichterischen ausdrucksmittel der gleichzeitigen menschen / 1289 zur nachahmung aufgereizt haben. ich erinnere hier an ein / 1290 $V00 C0046 L 1 1291 bekanntes, unserer aesthetik nur anstoessig duenkendes phaenomen / 1292 unserer tage. wir erleben es immer wieder, wie eine beethouensche / 1293 symphonie die einzelnen zuhoerer zu einer bilderrede / 1294 noethigt sei es auch, dass eine zusammenstellung der verschiedenen, / 1295 durch ein tonstueck erzeugten bilderwelten sich recht phanthastisch / 1296 bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchen zusammenstellungen / 1297 ihren armen witz zu ueben und das doch wahrlich / 1298 erklaerenswerthe phaenomen zu uebersehen ist recht in der / 1299 art jener aesthetik. ja selbst wenn der tondichter in bildern / 1300 ueber eine composition geredet hat, etwa wenn er eine symphonie / 1301 als pastorale und einen satz als scene am bach, einen anderen / 1302 als lustiges zusammensein der landleute bezeichnet, so sind / 1303 das ebenfalls nur gleichnissartige aus der musik geborne vorstellungen / 1304 und nicht etwa die nachgeahmten gegenstaende der / 1305 musik, vorstellungen, die ueber den dionysischen inhalt / 1306 der musik uns nach keiner seite hin belehren koennen, ja die / 1307 keinen ausschliesslichen werth neben anderen bildern haben. / 1308 diesen prozess einer entladung der musik in bildern haben wir / 1309 uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schoepferische volksmenge / 1310 zu uebertragen, um zur ahnung zu kommen, wie das / 1311 strophische volkslied entsteht und wie das ganze sprachvermoegen / 1312 durch das neue prinzip der nachahmung der musik aufgeregt / 1313 wird. / 1314 dverfen wir also die lyrische dichtung als die nachahmende / 1315 effulguration der musik in bildern und begriffen betrachten, so / 1316 koennen wir jetzt fragen: als was erscheint die musik im / 1317 spiegel der bildlichkeit und der begriffe. sie erscheint / 1318 als wille, das wort im schopenhaverischen sinne genommen, / 1319 das heisst als gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen / 1320 stimmung. hier unterscheide man nun so scharf als moeglich / 1321 den begriff des wesens von dem der erscheinung: denn die / 1322 musik kann, ihrem wesen nach, unmoeglich wille sein, weil sie als / 1323 solcher gaenzlich aus dem bereich der kunst zu bannen waere / 1324 denn der wille ist das an sich unaesthetische; aber sie erscheint / 1325 $V00 C0047 L 1 1326 als wille. denn um ihre erscheinung in bildern auszudruecken, / 1327 braucht der lyriker alle regungen der leidenschaft, / 1328 vom fluestern der neigung bis zum grollen des wahnsinns; unter / 1329 dem triebe, in apollinischen gleichnissen von der musik zu / 1330 reden, versteht er die ganze natur und sich in ihr nur als das ewig / 1331 wollende, begehrende, sehnende. insofern er aber die musik in / 1332 bildern deutet, ruht er selbst in der stillen meeresruhe der apollinischen / 1333 betrachtung, sosehr auch alles, was er durch das medium / 1334 der musik anschaut, um ihn herum in draengender und treibender / 1335 bewegung ist. ja wenn er sich selbst durch dasselbe medium erblickt, / 1336 so zeigt sich ihm sein eignes bild im zustande des unbefriedigten / 1337 gefuehls: sein eignes wollen, sehnen, stoehnen, jauchzen / 1338 ist ihm ein gleichnis, mit dem er die musik sich deutet. dies / 1339 ist das phaenomen des lyrikers: als apollinischer genius interpretiert / 1340 er die musik durch das bild des willens, waehrend er selbst, / 1341 voellig losgeloest von der gier des willens, reines ungetruebtes / 1342 sonnenauge ist. / 1343 diese ganze eroerterung haelt daran fest, dass die lyrik ebenso / 1344 abhaengig ist vom geiste der musik, als die musik selbst, in / 1345 ihrer voelligen unumschraenktheit, das bild und den begriff nicht / 1346 braucht, sondern ihn nur neben sich ertraegt. die dichtung / 1347 des lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheversten / 1348 allgemeinheit und allgueltigkeit bereits in der musik lag, die / 1349 ihn zur bilderrede noethigte. der weltsymbolik der musik ist / 1350 ebendeshalb mit der sprache auf keine weise erschoepfend beizukommen, / 1351 weil sie sich auf den urwiderspruch und urschmerz / 1352 im herzen des ureinen symbolisch bezieht, somit eine sphaere / 1353 symbolisirt die ueber alle erscheinung und vor aller erscheinung / 1354 ist. ihr gegenueber ist uielmehr jede erscheinung nur gleichnis: / 1355 daher kann die sprache, als organ und symbol der erscheinungen, / 1356 nie und nirgends das tiefste innere der musik nach / 1357 aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf nachahmung / 1358 der musik einlaesst, nur in einer aeusserlichen beruehrung / 1359 mit der musik, waehrend deren tiefster sinn, durch alle lyrische / 1360 $V00 C0048 L 1 1361 beredsamkeit, uns auch keinen schritt naeher gebracht werden / 1362 kann. / 1363 alle die bisher eroerterten kunstprincipien muessen wir jetzt / 1364 zu huelfe nehmen, um uns in dem labyrinth zurechtzufinden, / 1365 als welches wir den ursprung der griechischen / 1366 tragoedie bezeichnen muessen. ich denke, nichts ungereimtes / 1367 zu behauptem, wenn ich sage, dass das problem dieses ursprungs / 1368 bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn / 1369 geloest ist, sooft auch die zerflatternden fetzen der antiken ueberlieferung / 1370 schon combinatorisch aneinandergenaeht und wieder / 1371 auseinandergerissen sind. diese ueberlieferung sagt uns mit / 1372 voller enstschiedenheit, dass die tragoedie aus dem / 1373 tragischen chore entstanden ist und urspruenglich / 1374 nur chor und nichts als chor war: woher wir die verpflichtung / 1375 nehmen, diesem tragischen chore als dem eigentlichen urdrama / 1376 ins herz zu sehen, ohne uns an den gelaeufigen kunstredensarten / 1377 dass er der idealische zuschaver sei oder das volk gegenueber / 1378 der fuerstlichen region der scene zu vertreten habe irgendwie / 1379 genuegen zu lassen. jener zuletzt erwaehnte, fuer manchen politiker / 1380 erhaben klingende erlaeuterungsgedanke als ob das unwandelbare / 1381 sittengesetz von den demokratischen athenern in dem / 1382 volkschore dargestellt sei, der ueber die leidenschaftlichen ausschreitungen / 1383 und ausschweifungen der koenige hinaus immer / 1384 recht behalte mag noch so sehr durch ein wort des aristoteles / 1385 nahegelegt sein: auf die urspruengliche formation der tragoedie / 1386 ist er ohne einfluss, da von jenen rein religioesen urspruengen der / 1387 ganze gegensatz von volk und fuerst, ueberhaupt jegliche politisch / 1388 sociale sphaere ausgeschlossen ist; aber wir moechten es auch / 1389 in hinsicht auf die uns bekannte classische form des chors bei / 1390 aeschylus und sophokles fuer blasphemie erachten, hier von der / 1391 ahnung einer constitutionellen volksvertretung zu reden, vor / 1392 $V00 C0049 L 1 1393 welcher blasphemie andere nicht zurueckgeschrocken sind. eine / 1394 constitutionelle volksvertretung kennen die antiken staatsverfassungen / 1395 in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer / 1396 tragoedie nicht einmal geahnt. / 1397 uiel beruehmter als diese politische erklaerung des chors ist / 1398 der gedanke august wilhelm schlegels, der uns den chor gewissermaassen / 1399 als den inbegriff und extract der zuschavermenge, als den / 1400 idealischen zuschaver, zu betrachten anempfiehlt. diese ansicht, / 1401 zusammengehalten mit jener historischen ueberlieferung, / 1402 dass urspruenglich die tragoedie nur chor war, erweist sich als / 1403 das, was sie ist: als eine rohe, unwissenschaftliche, doch glaenzende / 1404 behauptung, die ihren glanz aber nur durch ihre concentrirte / 1405 form des ausdrucks, durch die echt germanische voreingenommenheit / 1406 fuer alles, was idealisch genannt wird, und / 1407 durch unser momentanes erstauntsein erhalten hat. wir sind / 1408 naemlich erstaunt, sobald wir das uns gutbekannte theaterpublicum / 1409 mit jenem chore vergleichen und uns fragen, ob es / 1410 wohl moeglich sei, aus diesem publicum je etwas dem tragischen / 1411 chore analoges herauszuidealisiren. wir leugnen dies im stillen / 1412 und wundern uns jetzt ebenso ueber die kuehnheit der schlegelschen / 1413 behauptung wie ueber die total verschiedene natur des / 1414 griechischen publicums. wir hatten naemlich doch immer gemeint, / 1415 dass der rechte zuschaver, er sei, wer er wolle, sich immer / 1416 bewusst bleiben muesse, ein kunstwerk vor sich zu haben, nicht / 1417 eine empirische realitaet: waehrend der tragische chor der / 1418 griechen in den gestalten der buehne leibhafte existenzen zu / 1419 erkennen genoethigt ist. der okeanidenchor glaubt, wirklich den / 1420 titan prometheus vor sich zu sehen, und haelt sich selbst fuer ebenso / 1421 real wie den gott der scene. und das sollte die hoechste / 1422 und reinste art des zuschavers sein, gleich den okeaniden den / 1423 prometheus fuer leiblich vorhanden und real zu halten. und es / 1424 waere das zeichen des idealischen zuschavers, auf die buehne zu / 1425 laufen und den gott von seinen martern zu befreien. wir hatten / 1426 an ein aestetisches publicum geglaubt und den einzelnen zuschaver / 1427 $V00 C0050 L 1 1428 fuer um so befaehigter gehalten, je mehr er imstande war, / 1429 das kunstwerk als kunst, das heisst aestetisch, zu nehmen; und jetzt / 1430 deutete uns der schlegelsche ausdruck an, dass der vollkommne / 1431 idealische zuschaver die welt der scene gar nicht aestetisch, / 1432 sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. o ueber diese / 1433 griechen seufzten wir; sie werfen uns unsre aesthetik um. daran / 1434 aber gewoehnt, wiederholten wir den schlegelschen spruch, sooft / 1435 der chor zur sprache kam. / 1436 aber jene so ausdrueckliche ueberlieferung redet hier gegen / 1437 schlegel: der chor an sich, ohne buehne, also die primitiue / 1438 gestalt der tragoedie und jener chor idealischer zuschaver vertragen / 1439 sich nicht miteinander. was waere das fuer eine kunstgattung, / 1440 die aus dem begriff des zuschavers herausgezogen waere, / 1441 als deren eigentliche form der zuschaver an sich zu gelten / 1442 haette. der zuschaver ohne schauspiel ist ein widersinniger begriff. / 1443 wir fuerchten, dass die geburt der tragoedie weder aus der / 1444 hochachtung vor der sittlichen intelligenz der masse noch aus / 1445 dem begriff des schauspiellosen zuschavers zu erklaeren sei, und / 1446 halten dies problem fuer zu tief, um von so flachen betrachtungsarten / 1447 auch nur beruehrt zu werden. / 1448 eine unendlich werthvollere einsicht ueber die bedeutung / 1449 des chors hatte bereits schiller in der beruehmten vorrede zur / 1450 braut von messina verrathen der den chor als eine lebendige / 1451 maver betrachtete, die die tragoedie um / 1452 sich herum zieht, um sich von der wirklichen welt rein abzuschliessen und sich i / 1453 idealen boden und ihre poetische freiheit zu bewahren. / 1454 schiller kaempft mit dieser seiner hauptwaffe gegen den / 1455 gemeinen begriff des natverlichen, gegen die bei der dramatischen / 1456 poesie gemeinhin geheischte illusion. waehrend der tag / 1457 selbst auf dem theater nur ein kuenstlicher, die architektur nur / 1458 eine symbolische sei und die metrische sprache einen idealen / 1459 charakter trage, herrsche immer noch der irrthum im ganzen: / 1460 es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische freiheit / 1461 dulde, was doch das wesen aller poesie sei. die einfuehrung des / 1462 $V00 C0051 L 1 1463 chores sei der entscheidende schritt, mit dem jedem naturalismus / 1464 in der kunst offen und ehrlich der krieg erklaert werde. / 1465 eine solche betrachtungsart ist es, scheint mir, fuer die unser sich / 1466 ueberlegen waehnendes zeitalter das wegwerfende schlagwort / 1467 pseudoidealismus gebraucht. ich fuerchte, wir sind dagegen mit / 1468 unserer jetzigen verehrung des natverlichen und wirklichen am / 1469 gegenpol alles idealismus angelangt, naemlich in der region der / 1470 wachsfigurencabinett. auch in ihnen giebt es eine kunst wie / 1471 bei gewissen beliebten romanen der gegenwart; nur quaele man / 1472 uns nicht mit dem anspruch, dass mit dieser kunst der schiller- / 1473 goethesche pseudoidealismus ueberwunden sei. / 1474 freilich ist es ein idealer boden, auf dem, nach der richtigen / 1475 einsicht schillers, der griechische satyrchor, der chor der / 1476 urspruenglichen tragoedie, zu wandeln pflegt, ein boden, hoch / 1477 emporgehoben ueber die wirkliche wandelbahn der sterblichen. / 1478 der grieche hat sich fuer diesen chor die schwebegerueste eines / 1479 fingirten naturzustandes gezimmert und auf sie hin / 1480 fingirte naturwesen gestellt. die tragoedie ist auf diesem / 1481 fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von / 1482 anbeginn an einem peinlichen abkonterfeien der wirklichkeit / 1483 enthoben gewesen. dabei ist es doch keine willkverlich zwischen / 1484 himmel und erde hineinphantasirte welt; uielmehr eine welt / 1485 von gleicher realitaet und glaubwuerdigkeit, wie sie der olymp / 1486 sammt seinen insassen fuer den glaeubigen hellenen besass. der / 1487 satyr als der dionysische choreut lebt in einer religioes zugestandenen / 1488 wirklichkeit unter der sanction des mythus und des / 1489 cultus. dass mit ihm die tragoedie beginnt, dass aus ihm die / 1490 dionysische weisheit der tragoedie spricht, ist ein hier uns ebenso / 1491 befremdendes phaenomen wie ueberhaupt die entstehung der / 1492 tragoedie aus dem chore. uielleicht gewinnen wir einen ausgangspunkt / 1493 der betrachtung, wenn ich die behauptung hinstelle, / 1494 dass sich der satyr, das fingirte naturwesen, zu dem culturmenschen / 1495 in gleicher weise verhaelt wie die dionysische musik / 1496 zur ciuilisation. von letzterer sagt richard wagner, dass sie / 1497 $V00 C0052 L 1 1498 von der musik aufgehoben werde wie der lampenschein vom / 1499 tageslicht. in gleicher weise, glaube ich, fuehlte sich der griechische / 1500 culturmensch im angesicht des satyrchors aufgehoben: / 1501 und dies ist die naechste wirkung der dionysischen tragoedie, / 1502 dass der staat und die gesellschaft, ueberhaupt die kluefte zwischen / 1503 mensch und mensch einem uebermaechtigen einheitsgefuehle weichen, / 1504 welches an das herz der natur zurueckfuehrt. der metaphysische / 1505 trost mit welchem, wie ich schon hier andeute, / 1506 uns jede wahre tragoedie entlaesst, dass das leben im grunde / 1507 der dinge, trotz allem wechsel der erscheinungen, unzerstoerbar / 1508 maechtig und lustvoll sei, dieser trost erscheint in leibhafter / 1509 deutlichkeit als satyrchor, als chor von naturwesen, die gleichsam / 1510 hinter aller ciuilisation unvertilgbar leben und trotz allem / 1511 wechsel der generationen und der voelkergeschichte ewig dieselben / 1512 bleiben. / 1513 mit diesem chore troestet sich der tiefsinnige und zum zartesten / 1514 und schwersten leiden einzig befaehigte hellene, der mit / 1515 schneidigem blicke mitten in das furchtbare vernichtungstreiben / 1516 der sogenannten weltgeschichte ebenso wie in die grausamkeit / 1517 der natur geschaut hat und in gefahr ist, sich nach einer / 1518 buddhaistischen verneinung des willens zu sehnen. ihn rettet / 1519 die kunst, und durch die kunst rettet ihn sich das leben. / 1520 die verzueckung des dionysischen zustandes, mit seiner vernichtung / 1521 der gewoehnlichen schranken und grenzen des daseins, / 1522 enthaelt naemlich waehrend seiner daver ein lethargisches / 1523 element, in das sich alles persoenlich in der vergangenheit erlebte / 1524 eintaucht. so scheidet sich durch diese kluft der vergessenheit / 1525 die welt der alltaeglichen und der dionysischen wirklichkeit voneinander / 1526 ab. sobald aber jene alltaegliche wirklichkeit wieder ins / 1527 bewusstsein tritt, wird sie mit ekel als solche empfunden; eine / 1528 asketische, willen verneinende stimmung ist die frucht jener zustaende. / 1529 in diesem sinne hat der dionysische mensch aehnlichkeit / 1530 mit hamlet: beide haben einmal einen wahren blick in das / 1531 wesen der dinge gethan sie haben erkannt, und es ekelt sie / 1532 $V00 C0053 L 1 1533 zu handeln; denn ihre handlung kann nichts am ewigen wesen / 1534 der dinge aendern, sie empfinden es als laecherlich oder schmachvoll, / 1535 dass ihnen zugemuthet wird, die welt, die aus den fugen / 1536 ist, wiedereinzurichten. die erkenntniss toedtet das handeln, / 1537 zum handeln gehoert das umschleiertsein durch die illusion / 1538 das ist die hamletlehre, nicht jene wohlfeile weisheit von / 1539 hans dem traeumer, der aus zuuiel reflexion, gleichsam aus / 1540 einem ueberschuss von moeglichkeiten, nicht zum handeln / 1541 kommt; nicht das reflectiren nein, die wahre erkenntniss / 1542 der einblick in die grauenhafte wahrheit ueberwiegt jedes zum / 1543 handeln antreibende motiu, bei hamlet sowohl als bei dem / 1544 dionysischen menschen. jetzt verfaengt kein trost mehr, die sehnsucht / 1545 geht ueber eine welt nach dem tode, ueber die goetter selbst / 1546 hinaus, das dasein wird, sammt seiner gleissenden widerspiegelung / 1547 in den goettern oder in einem unsterblichen jenseits, verneint. / 1548 in der bewusstheit der einmal geschauten wahrheit sieht / 1549 jetzt der mensch ueberall nur das entsetzliche oder absurde des / 1550 seins, jetzt versteht er das symbolische im schicksal der ophelia, / 1551 jetzt erkennt er die weisheit des waldgottes silen: es ekelt ihn. / 1552 hier, in dieser hoechsten gefahr des willens, naht sich, als / 1553 rettende, heilkundige zauberin, die kunst; sie allein vermag / 1554 jene ekelgedanken ueber das entsetzliche oder absurde des daseins / 1555 in vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben laesst: / 1556 diese sind das erhabene, als die kuenstlerische baendigung des / 1557 entsetzlichen, und das komische, als die kuenstlerische entladung / 1558 vom ekel des absurden. der satyrchor des dithyrambus / 1559 ist die rettende that der griechischen kunst; an der mittelwelt / 1560 dieser dionysischen begleiter erschoepften sich jene vorhin beschriebenen / 1561 anwandlungen. / 1562 der satyr wie der idyllische schaefer unserer neveren zeit / 1563 sind beide: ausgeburten einer auf das urspruengliche und natverliche / 1564 $V00 C0054 L 1 1565 gerichteten sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen / 1566 griffe fasste der grieche nach seinem waldmenschen, wie / 1567 verschaemt und weichlich taendelte der moderne mensch mit dem / 1568 schmeichelbild eines zaertlichen, floetenden, weichgearteten hirten. / 1569 die natur, an der noch keine erkenntniss gearbeitet, in der die / 1570 riegel der cultur noch unerbrochen sind das sah der grieche / 1571 in seinem satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem affen zusammenfiel. / 1572 im gegenteil, es war das urbild des menschen, der / 1573 ausdruck seiner hoechsten und staerksten regungen: als begeisterter / 1574 schwaermer, den die naehe des gottes entzueckt: als mitleidender / 1575 genosse, in dem sich das leiden des gottes wiederholt: als / 1576 weisheisverkuender aus der tiefsten brust der natur heraus: / 1577 als sinnbild der geschlechtlichen allgewalt der natur, die der / 1578 grieche gewoehnt ist, mit ehrfuerchtigem staunen zu betrachten. / 1579 der satyr war etwas erhabenes und goettliches: so musste er / 1580 besonders dem schmerzlich gebrochnen blick des dionysischen / 1581 menschen duenken. ihn haette der geputzte, erlogene schaefer beleidigt: / 1582 auf den unverhuellten und unverkuemmert grossartigen / 1583 schriftzuegen der natur weilte sein auge in erhabener befriedigung; / 1584 hier war die illusion der cultur von dem urbilde des / 1585 menschen weggewischt, hier enthuellte sich der wahre mensch, der / 1586 baertige satyr, der zu seinem gotte aufjubelt. vor ihm schrumpfte / 1587 der culturmensch zur luegenhaften caricatur zusammen. auch / 1588 fuer diese anfaenge der tragischen kunst hat schiller recht: / 1589 der chor ist eine lebendige maver gegen die anstvermende wirklichkeit, / 1590 weil er der satyrchor das dasein wahrhaftiger, wirklicher, / 1591 vollstaendiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige / 1592 realitaet achtende culturmensch. die sphaere der poesie liegt / 1593 nicht ausserhalb der welt, als eine phantastische unmoeglichkeit / 1594 eines dichterhirns: sie will das gerade gegenteil sein, der ungeschminkte / 1595 ausdruck der wahrheit, und muss ebendeshalb den / 1596 luegenhaften aufputz jener vermeinten wirklichkeit des culturmenschen / 1597 von sich werfen. der contrast dieser eigentlichen / 1598 naturwahrheit und der sich als einzige realitaet gebaerdenden / 1599 $V00 C0055 L 1 1600 kulturluege ist ein aehnlicher wie zwischen dem ewigen kern der / 1601 dinge, dem ding an sich, und der gesammten erscheinungswelt; / 1602 und wie die tragoedie mit ihrem metaphysischen troste auf das / 1603 ewige leben jenes daseinskernes bei dem fortwaehrenden untergange / 1604 der erscheinungen hinweist, so spricht bereits die symbolik / 1605 des satyrchors in einem gleichnis jenes urverhaeltniss / 1606 zwischen ding an sich und erscheinung aus. jener idyllische / 1607 schaefer des modernen menschen ist nur ein conterfei der ihm als / 1608 natur geltenden summe von bildungsillusionen; der dionysische / 1609 grieche will die wahrheit und die natur in ihrer hoechsten kraft / 1610 er sieht sich zum satyr verzaubert. / 1611 unter solchen stimmungen und erkenntnissen jubelt die / 1612 schwaermende schar der dionysusdiener: deren macht sie selbst / 1613 vor ihren eignen augen verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte / 1614 naturgenien, als satyrn, zu erblicken waehnen. die / 1615 spaetere constitution des tragoedienchors ist die kuenstlerische / 1616 nachahmung jenes natverlichen phaenomens bei der nun allerdings / 1617 eine scheidung von dionysischen zuschavern und dionysischen / 1618 verzauberten noethig wurde. nur muss man sich immer / 1619 gegenwaertig halten, dass das publicum der attischen tragoedie / 1620 sich selbst in dem chore der orchestra wiederfand, dass es im / 1621 grunde keinen gegensatz von publicum und chor gab: denn / 1622 alles ist nur ein grosser erhabener chor von tanzenden und singenden / 1623 satyrn oder von solchen, welche sich durch diese satyrn / 1624 repraesentiren lassen. das schlegelsche wort muss sich uns hier in / 1625 einem tieferen sinne erschliessen. der chor ist der idealische / 1626 zuschaver, insofern er der einzige schaver ist, der schaver / 1627 der uisionswelt der scene. ein publicum von zuschavern, wie / 1628 wir es kennen, war den griechen unbekannt: in ihren theatern / 1629 war es jedem bei dem in concentrischen bogen sich erhebenden / 1630 terrassenbau des zuschaverraumes moeglich, die gesammte culturwelt / 1631 um sich herum ganz eigentlich zu uebersehen und in / 1632 gesaettigtem hinschauen sich selbst choreut zu waehnen. nach / 1633 dieser einsicht dverfen wir den chor auf seiner primitiuen stufe / 1634 $V00 C0056 L 1 1635 in der urtragoedie eine selbstspiegelung des dionysischen menschen / 1636 nennen: welches phaenomen am deutlichsten durch den / 1637 prozess des schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter begabung, / 1638 sein von ihm darzustellendes rollenbild zum greifen / 1639 wahrnehmbar vor seinen augen schweben sieht. der satyrchor / 1640 ist zuallererst eine uision der dionysischen masse, wie wiederum / 1641 die welt der buehne eine uision dieses satyrchors ist: die kraft / 1642 dieser uision ist stark genug, um gegen den eindruck der realitaet, / 1643 gegen die rings auf den sitzreihen gelagerten bildungsmenschen / 1644 den blick stumpf und unempfindlich zu machen. die / 1645 form des griechischen theaters erinnert an ein einsames gebirgsthal / 1646 die architektur der scene erscheint wie ein leuchtendes / 1647 wolkenbild, welches die im gebirge herumschwaermenden bacchen / 1648 von der hoehe aus erblicken, als die herrliche umrahmung, / 1649 in deren mitte ihnen das bild des dionysus offenbar wird. / 1650 jene kuenstlerische urerscheinung, die wir hier zur erklaerung / 1651 des tragoedienchors zur sprache bringen, ist bei unserer gelehrtenhaften / 1652 anschauung ueber die elementaren kuenstlerischen prozesse / 1653 fast anstoessig; waehrend nichts ausgemachter sein kann, als / 1654 dass der dichter nur dadurch dichter ist, dass er von gestalten / 1655 sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren / 1656 innerstes wesen er hineinblickt. durch eine eigenthuemliche / 1657 schwaeche der modernen begabung sind wir geneigt, uns das / 1658 aesthetische urphaenomen zu comlicirt und abstract vorzustellen. / 1659 die metapher ist fuer den aechten dichter nicht eine rhetorische / 1660 figur, sondern ein stellvertretendes bild, das ihm wirklich, / 1661 an stelle eines begriffes, vorschwebt. der charakter ist fuer / 1662 ihn nicht etwas aus zusammengesuchten einzelzuegen componirtes / 1663 ganzes, sondern eine vor seinen augen aufdringlich lebendige / 1664 person, die von der gleichen uision des malers sich nur durch / 1665 das fortwaehrende weiterleben und weiterhandeln unterscheidet. / 1666 wodurch schildert homer so uiel anschaulicher als alle dichter. / 1667 weil er um so uiel mehr anschaut. wir reden ueber poesie so / 1668 abstract weil wir alle schlechte dichter zu sein pflegen. im / 1669 $V00 C0057 L 1 1670 grunde ist das aesthetische phaenomen einfach; man habe nur die / 1671 faehigkeit, fortwaehrend ein lebendiges spiel zu sehen und immerfort / 1672 von geisterscharen umringt zu leben, so ist man dichter; / 1673 man fuehle nur den trieb, sich selbst zu verwandeln und aus / 1674 anderen leibern und seelen herauszureden, so ist man dramatiker. / 1675 die dionysische erregung ist imstande, einer ganzen masse / 1676 diese kuenstlerische begabung mitzutheilen sich von einer solchen / 1677 geisterschar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins / 1678 weiss. dieser prozess des tragoedienchors ist das dramatische / 1679 urphaenomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt / 1680 zu handeln, als ob man wirklich in einen andern leib, in einen / 1681 andern charakter eingegangen waere. dieser prozess steht an / 1682 dem anfang der entwickelung des dramas. hier ist etwas / 1683 anderes als der rhapsode, der mit seinen bildern nicht verschmilzt, / 1684 sondern sie, dem maler aehnlich, mit betrachtendem / 1685 auge ausser sich sieht; hier ist bereits ein aufgeben des indiuiduums / 1686 durch einkehr in eine fremde natur. und zwar tritt dieses / 1687 phaenomen epidemisch auf: eine ganze schar fuehlt sich in dieser / 1688 weise verzaubert. der dithyramb ist deshalb wesentlich von / 1689 jedem anderen chorgesange unterschieden. die jungfrauen, die / 1690 mit lorbeerzweigen in der hand feierlich zum tempel des / 1691 apollo ziehn und dabei ein prozessionslied singen, bleiben, wer / 1692 sie sind, und behalten ihren bvergerlichen namen; der dithyrambische / 1693 chor ist ein chor von verwandelten, bei denen ihre / 1694 bvergerliche vergangenheit, ihre sociale stellung voellig vergessen / 1695 ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller gesellschaftssphaere / 1696 lebenden diener ihres gottes geworden. alle andere chorlyrik / 1697 der hellenen ist nur eine ungeheure steigerung des apollinischen / 1698 einzelsaengers; waehrend im dithyramb eine gemeinde von unbewussten / 1699 schauspielern vor uns steht, die sich selbst untereinander / 1700 als verwandelt ansehen. / 1701 die verzauberung ist die voraussetzung aller dramatischen / 1702 kunst. in dieser verzauberung sieht sich der dionysische schwaermer / 1703 $V00 C0058 L 1 1704 als satyr, und als satyr wiederum schaut er / 1705 den gott, das heisst, er sieht in seiner verwandlung eine neue uision / 1706 ausser sich: als apollinische vollendung seines zustandes. mit / 1707 dieser neuen uision ist das drama vollstaendig. / 1708 nach dieser erkenntniss haben wir die griechische tragoedie / 1709 als den dionysischen chor zu verstehen, der sich immer von / 1710 neuem wieder in einer apollinischen bilderwelt entladet. jene / 1711 chorpartien, mit denen die tragoedie durchflochten ist, sind also / 1712 gewissermaassen der mutterschooss des ganzen sogenannten dialogs, / 1713 das heisst der gesammten buehnenwelt, des eigentlichen dramas. / 1714 in mehreren aufeinanderfolgenden entladungen strahlt dieser / 1715 urgrund der tragoedie jene uision des dramas aus: die durchaus / 1716 traumerscheinung und insofern epischer natur ist, andrerseits / 1717 aber, als objectiuation eines dionysischen zustandes, nicht die / 1718 apollinische erloesung im scheine, sondern im gegenteil das / 1719 zerbrechen des indiuiduums und sein einswerden mit dem / 1720 ursein darstellt. somit ist das drama die apollinische versinnlichung / 1721 dionysischer erkenntnisse und wirkungen und dadurch / 1722 wie durch eine ungeheure kluft vom epos abgeschieden. / 1723 der chor der griechischen tragoedie, das symbol der gesammten / 1724 dionysisch erregten masse, findet an dieser unserer / 1725 auffassung seine volle erklaerung. waehrend wir mit der gewoehnung / 1726 an die stellung eines chors auf der modernen buehne, / 1727 zumal eines opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jener / 1728 tragische chor der griechen aelter, urspruenglicher, ja wichtiger / 1729 sein sollte als die eigentliche action wie dies doch so / 1730 deutlich ueberliefert war, waehrend wir wiederum mit jener / 1731 ueberlieferten hohen wichtigkeit und urspruenglichkeit nicht / 1732 reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienenden / 1733 wesen, ja zverst nur aus bocksartigen satyrn zusammengesetzt / 1734 worden sei, waehrend uns die orchestra vor der scene immer ein / 1735 raethsel blieb, sind wir jetzt zu der einsicht gekommen, dass die / 1736 scene sammt der action im grunde und urspruenglich nur als / 1737 uision gedacht wurde, dass die einzige realitaet ebender / 1738 $V00 C0059 L 1 1739 chor ist, der die uision aus sich erzeugt und von ihr mit der / 1740 ganzen symbolik des tanzes, des tones und des wortes redet. / 1741 dieser chor schaut in seiner uision seinen herrn und meister / 1742 dionysus und ist darum ewig der dienende chor: er sieht, / 1743 wie dieser, der gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt / 1744 deshalb selbst nicht. bei dieser dem gotte gegenueber durchaus / 1745 dienenden stellung ist er doch der hoechste, naemlich dionysische / 1746 ausdruck der natur und redet darum, wie diese, in der begeisterung / 1747 orakel- und weisheitssprueche: als der mitleidende / 1748 ist er zugleich der weise, aus dem herzen der welt / 1749 die wahrheit verkuendende. so entsteht denn jene phantastische / 1750 und so anstoessig scheinende figur des weisen und begeisterten / 1751 satyrs, der zugleich der tumbe mensch im gegensatz zum / 1752 gotte ist: abbild der natur und ihrer staerksten triebe, ja symbol / 1753 derselben und zugleich verkuender ihrer weisheit und kunst: / 1754 musiker, dichter, taenzer, geisterseher in einer person. / 1755 dionysus, der eigentliche buehnenheld und mittelpunkt / 1756 der uision, ist gemaess dieser erkenntniss und gemaess der ueberlieferung, / 1757 zverst, in der alleraeltesten periode der tragoedie, nicht / 1758 wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt; / 1759 das heisst, urspruenglich ist die tragoedie nur chor und nicht / 1760 drama. spaeter wird nun der versuch gemacht, den gott als / 1761 einen realen zu zeigen und die uisionsgestalt sammt der verklaerenden / 1762 umrahmung als jedem auge sichtbar darzustellen; / 1763 damit beginnt das drama im engeren sinne. jetzt bekommt / 1764 der dithyrambische chor die aufgabe, die stimmung der zuhoerer / 1765 bis zu dem grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der / 1766 tragische held auf der buehne erscheint, nicht etwa den unfoermlich / 1767 maskirten menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer / 1768 eignen verzueckung geborene uisionsgestalt. denken wir uns / 1769 admet mit tiefem sinnen seiner juengst abgeschiedenen gattin / 1770 alcestis gedenkend und ganz im geistigen anschauen derselben / 1771 sich verzehrend wie ihm nun ploetzlich ein / 1772 aehnlich gestaltetes, aehnlich schreitendes frauenbild in verhuellung entgegenge / 1773 $V00 C0060 L 1 1774 wird; denken wir uns seine ploetzliche zitternde unruhe, sein / 1775 stvermisches vergleichen, seine instinctiue ueberzeugung so / 1776 haben wir ein analogon zu der empfindung, mit der der dionysisch / 1777 erregte zuschaver den gott auf der buehne heranschreiten / 1778 sah, mit dessen leiden er bereits eins geworden ist. unwillkverlich / 1779 uebertrug er das ganze magisch vor seiner seele zitternde bild / 1780 des gottes auf jene maskirte gestalt und loeste ihre realitaet / 1781 gleichsam in eine geisterhafte unwirklichkeit auf. dies ist der / 1782 apollinische traumeszustand, in dem die welt des tages sich verschleiert / 1783 und eine neue welt deutlicher, verstaendlicher, ergreifender / 1784 als jene und doch schattengleicher, in fortwaehrendem / 1785 wechsel sich unserem auge neu gebiert. demgemaess erkennen / 1786 wir in der tragoedie einen durchgreifenden stilgegensatz: sprache, / 1787 farbe beweglichkeit, dynamik der rede treten in der dionysischen / 1788 lyrik des chors und andrerseits in der apollinischen / 1789 traumwelt der scene als voellig gesonderte sphaeren des ausdrucks / 1790 auseinander. die apollinischen erscheinungen, in denen / 1791 sich dionysus objectiuirt sind nicht mehr ein ewiges meer, ein / 1792 wechselnd weben, ein gluehend leben, wie es die musik des / 1793 chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum bilde / 1794 verdichteten kraefte, in denen der begeisterte dionysusdiener / 1795 die naehe des gottes spvert: jetzt spricht, von der scene aus, die / 1796 deutlichkeit und festigkeit der epischen gestaltung zu ihm, jetzt / 1797 redet dionysus nicht mehr durch kraefte, sondern als epischer / 1798 held, fast mit der sprache homers. / 1799 alles, was im apollinischen teile der griechischen tragoedie, / 1800 im dialoge, auf die oberflaeche kommt, sieht einfach, durchsichtig, / 1801 schoen aus. in diesem sinne ist der dialog ein abbild des hellenen, / 1802 dessen natur sich im tanze offenbart, weil im tanze die groesste / 1803 kraft nur potenziell ist, aber sich in der geschmeidigkeit und / 1804 ueppigkeit der bewegung verraeth. so ueberrascht uns die sprache / 1805 $V00 C0061 L 1 1806 der sophokleischen helden durch ihre apollinische bestimmtheit / 1807 und helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten grund / 1808 ihres wesens zu blicken waehnen, mit einigem erstaunen, dass / 1809 der weg bis zu diesem grunde so kurz ist. sehen wir aber einmal / 1810 von dem auf die oberflaeche kommenden und sichtbar werdenden / 1811 charakter des helden ab der im grunde nichts mehr ist / 1812 als das auf eine dunkle wand geworfene lichtbild, das heisst: erscheinung / 1813 durch und durch, dringen wir uielmehr in den mythus / 1814 ein, der in diesen hellen spiegelungen sich projicirt so erleben / 1815 wir ploetzlich ein phaenomen, das ein umgekehrtes verhaeltniss / 1816 zu einem bekannten optischen hat. wenn wir bei einem kraeftigen / 1817 versuch, die sonne ins auge zu fassen, uns geblendet abwenden, / 1818 so haben wir dunkle farbige flecken gleichsam als heilmittel / 1819 vor den augen; umgekehrt sind jene lichtbilderscheinung des / 1820 sophokleischen helden, kurz das apollinische der maske, nothwendige / 1821 erzeugungen eines blickes ins innere und schreckliche / 1822 der natur, gleichsam leuchtende flecken zur heilung des von / 1823 grausiger nacht versehrten blickes. nur in diesem sinne dverfen / 1824 wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden begriff der griechischen / 1825 heiterkeit richtig zu fassen; waehrend wir allerdings / 1826 den falsch verstandenen begriff dieser heiterkeit im zustande / 1827 ungefaehrdeten behagens auf allen wegen und stegen der gegenwart / 1828 antreffen. / 1829 die leidvollste gestalt der griechischen buehne, der unglueckselige / 1830 oedipus, ist von sophokles als der edle mensch verstanden / 1831 worden, der zum irrthum und zum elend trotz seiner weisheit / 1832 bestimmt ist, der aber am ende durch sein ungeheures leiden / 1833 eine magische segensreiche kraft um sich ausuebt, die noch ueber / 1834 sein verscheiden hinaus wirksam ist. der edle mensch suendigt / 1835 nicht, will uns der tiefsinnige dichter sagen: durch sein handeln / 1836 mag jedes gesetz, jede natverliche ordnung, ja die sittliche welt / 1837 zugrunde gehen, eben durch dieses handeln wird ein hoeherer / 1838 magischer kreis von wirkungen gezogen, die eine neue welt auf / 1839 den ruinen der umgestverzten alten gruenden. das will uns der / 1840 $V00 C0062 L 1 1841 dichter, insofern er zugleich religioeser denker ist, sagen: als dichter / 1842 zeigt er uns zverst einen wunderbar geschverzten prozessknoten, / 1843 den der richter langsam, glied fuer glied, zu seinem / 1844 eigenen verderben loest; die echt hellenische freude an dieser / 1845 dialektischen loesung ist so gross, dass hierdurch ein zug von / 1846 ueberlegener heiterkeit ueber das ganze werk kommt, der den / 1847 schauderhaften voraussetzungen jenes prozessen ueberall die / 1848 spitze abbricht. im oedipus auf kolonos treffen wir diese / 1849 selbe heiterkeit, aber in eine unendliche verklaerung emporgehoben; / 1850 dem vom uebermaasse des elends betroffenen greise / 1851 gegenueber, der allem, was ihn betrifft, rein als leidender / 1852 preisgegeben ist steht die ueberirdische heiterkeit, die aus goettlicher / 1853 sphaere herniederkommt und uns andeutet, dass der held / 1854 in seinem rein passiuen verhalten seine hoechste actiuitaet erlangt, / 1855 die weit ueber sein leben hinausgreift, waehrend sein bewusstes / 1856 dichten und trachten im frueheren leben ihn nur zur / 1857 passiuitaet gefuehrt hat. so wird der fuer das sterbliche auge unaufloeslich / 1858 verschlungene prozessknoten der oedipusfabel langsam / 1859 entwirrt und die tiefste menschliche freude ueberkommt uns / 1860 bei diesem goettlichen gegenstueck der dialektik. wenn wir mit / 1861 dieser erklaerung dem dichter gerecht geworden sind, so kann / 1862 doch immer noch gefragt werden, ob damit der inhalt des mythus / 1863 erschoepft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze auffassung des / 1864 dichters nichts ist als ebenjenes lichtbild, welches uns, nach / 1865 einem blick in den abgrund, die heilende natur vorhaelt. oedipus, / 1866 der moerder seines uaters, der gatte seiner mutter, oedipus, der / 1867 raethselloeser der sphinx. was sagt uns die geheimnissvolle dreiheit / 1868 dieser schicksalsthaten. es giebt einen uralten, besonders / 1869 persischen volksglauben, dass ein weiser magier nur aus incest / 1870 geboren werden koenne: was wir uns im hinblick auf den raethselloesenden / 1871 und seine mutter freienden oedipus sofort so zu interpretiren / 1872 haben, dass dort, wo durch weissagende und magische / 1873 kraefte der bann von gegenwart und zukunft, das starre gesetz / 1874 der indiuiduation und ueberhaupt der eigentliche zauber der / 1875 $V00 C0063 L 1 1876 natur gebrochen ist, eine ungeheure naturwidrigkeit wie dort / 1877 der incest als ursache vorausgegangen sein muss; denn wie / 1878 koennte man die natur zum preisgeben ihrer geheimnisse zwingen, / 1879 wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, das heisst / 1880 durch das unnatverliche. diese erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen / 1881 dreiheit der oedipusschicksale ausgepraegt: derselbe, / 1882 der das raethsel der natur jener doppeltgearteten sphinx / 1883 loest, muss auch als moerder des uaters und gatte der mutter die / 1884 heiligsten naturordnungen zerbrechen. ja, der mythus scheint / 1885 uns zuraunen zu wollen, dass die weisheit, und gerade die dionysische / 1886 weisheit, ein naturwidriger greuel sei, dass der, welcher / 1887 durch sein wissen die natur in den abgrund der vernichtung / 1888 stverzt, auch an sich selbst die aufloesung der natur zu erfahren / 1889 habe. die spitze der weisheit kehrt sich gegen den weisen; / 1890 weisheit ist ein verbrechen an der natur. solche schreckliche / 1891 saetze ruft uns der mythus zu; der hellenische dichter aber beruehrt / 1892 wie ein sonnenstrahl die erhabene und furchtbare memnonssaeule / 1893 des mythus, so dass er ploetzlich zu toenen beginnt in / 1894 sophokleischen melodien. / 1895 der glorie der passiuitaet stelle ich jetzt die glorie der actiuitaet / 1896 gegenueber, welche den prometheus des aeschylus umleuchtet. / 1897 was uns hier der denker aeschylus zu sagen hatte, was / 1898 er aber als dichter durch sein gleichnissartiges bild uns nur ahnen / 1899 laesst, das hat uns der jugendliche goethe in den verwegenen / 1900 worten seines prometheus zu enthuellen gewusst: / 1901 hier sitz' ich, forme menschen / 1902 nach meinem bilde, / 1903 ein geschlecht, das mir gleich sei, / 1904 zu leiden, zu weinen, / 1905 zu geniessen und zu freuen sich / 1906 und dein nicht zu achten / 1907 wie ich. / 1908 der mensch, ins titanische sich steigerend, erkaempft sich selbst / 1909 seine cultur und zwingt die goetter, sich mit ihm zu verbinden, / 1910 $V00 C0064 L 1 1911 weil er in seiner selbsteignen weisheit die existenz und die / 1912 schranken derselben in seiner hand hat. das wunderbarste an / 1913 jenem prometheusgedicht, das seinem grundgedanken nach der / 1914 eigentliche hymnus der unfroemmigkeit ist, ist aber der tiefe / 1915 aeschyleische zug nach gerechtigkeit: das unermessliche / 1916 leid des kuehnen einzelnen auf der einen seite und die goettliche / 1917 noth ja ahnung einer goetterdaemmerung auf der andern, / 1918 die zur versoehnung, zum metaphysischen einssein zwingende / 1919 macht jener beiden leidenswelten dies alles erinnert auf das / 1920 staerkste an den mittelpunkt und hauptsatz der aeschyleischen / 1921 weltbetrachtung, die ueber goettern und menschen die moira als / 1922 ewige gerechtigkeit thronen sieht. bei der erstaunlichen kuehnheit, / 1923 mit der aeschylus die olympische welt auf seine gerechtigkeitswaagsc / 1924 stellt, muessen wir uns vergegenwaertigen, dass / 1925 der tiefsinnige grieche einen unverrueckbar festen untergrund / 1926 des metaphysischen denkens in seinen mysterien hatte und dass / 1927 sich an den olympiern alle seine sceptischen anwandelungen entladen / 1928 konnten. der griechische kuenstler insbesondere empfand / 1929 im hinblick auf diese gottheiten ein dunkles gefuehl wechselseitiger / 1930 abhaengigkeit: und gerade im prometheus des aeschylus / 1931 ist dieses gefuehl symbolisirt. der titanische kuenstler fand in sich / 1932 den trotzigen glauben, menschen schaffen und olympische goetter / 1933 wenigstens vernichten zu koennen: und dies durch seine hoehere / 1934 weisheit, die er freilich durch ewiges leiden zu buessen gezwungen / 1935 war. das herrliche koennen des grossen genius, das selbst mit / 1936 ewigem leide zu gering bezahlt ist, der herbe stolz des kuenstlers / 1937 das ist inhalt und seele der aeschyleischen dichtung, / 1938 waehrend sophokles in seinem oedipus das siegeslied des heiligen / 1939 praeludirend anstimmt. aber auch mit jener deutung, die / 1940 aeschylus dem mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche / 1941 schreckenstiefe nicht ausgemessen: uielmehr ist die werdelust des / 1942 kuenstlers, die jedem unheil trotzende heiterkeit des kuenstlerischen / 1943 schaffens nur ein lichtes wolken und himmelsbild, das / 1944 sich auf einem schwarzen see der traurigkeit spiegelt. die prometheussage / 1945 $V00 C0065 L 1 1946 ist ein urspruengliches eigenthum der gesammten / 1947 arischen voelkergemeinde und ein document fuer deren begabung / 1948 zum tiefsinnig tragischen, ja es moechte nicht ohne wahrscheinlichkeit / 1949 sein, dass diesem mythus fuer das arische wesen ebendieselbe / 1950 charakteristische bedeutung innewohnt, die der suendenfallmythus / 1951 fuer das semitische hat, und dass zwischen beiden / 1952 mythen ein verwandtschaftsgrad existiert: wie zwischen bruder / 1953 und schwester. die voraussetzung jenes prometheusmythus ist / 1954 der ueberschwaengliche werth den eine naiue menschheit dem / 1955 fever beilegt als dem wahren palladium jeder aufsteigenden / 1956 cultur dass aber der mensch frei ueber das fever waltet und es / 1957 nicht nur durch ein geschenk vom himmel, als zuendenden blitzstrahl / 1958 oder waermenden sonnenbrand, empfaengt, erschien jenen / 1959 beschaulichen urmenschen als ein freuel, als ein raub an der / 1960 goettlichen natur. und so stellt gleich das erste philosophische / 1961 problem einen peinlichen unloesbaren widerspruch zwischen / 1962 mensch und gott hin und rueckt ihn wie einen felsblock an die / 1963 pforte jeder cultur. das beste und hoechste, dessen die menschheit / 1964 theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen freuel und / 1965 muss nun wieder seine folgen dahinnehmen, naemlich die ganze / 1966 fluth von leiden und von kuemmernissen, mit denen die beleidigten / 1967 himmlischen das edel emporstrebende menschengeschlecht / 1968 heimsuchen muessen: ein herber gedanke, der durch die / 1969 wuerde, die er dem freuel ertheilt seltsam gegen den semitischen / 1970 suendenfallmythus absticht, in welchem die neugierde, die / 1971 luegnerische vorspiegelung, die verfuehrbarkeit, die luesternheit, / 1972 kurz eine reihe vornehmlich weiblicher affectionen als der ursprung / 1973 des uebels angesehen wurde. das, was die arische vorstellung / 1974 auszeichnet, ist die erhabene ansicht von der actiuen / 1975 suende als der eigentlich prometheischen tugend: womit zugleich / 1976 der ethische untergrund der pessimistischen tragoedie gefunden / 1977 ist, als die rechtfertigung des menschlichen uebels, / 1978 und zwar sowohl der menschlichen schuld als des dadurch verwirkten / 1979 leidens. das unheil im wesen der dinge das der beschauliche / 1980 $V00 C0066 L 1 1981 arier nicht geneigt ist wegzudeuteln, der widerspruch / 1982 im herzen der welt offenbart sich ihm als ein durcheinander / 1983 verschiedener welten, zum beispiel einer goettlichen und einer / 1984 menschlichen, von denen jede als indiuiduum im recht ist, aber / 1985 als einzelne neben einer andern fuer ihre indiuiduation zu leiden / 1986 hat. bei dem heroischen drange des einzelnen ins allgemeine, / 1987 bei dem versuche, ueber den bann der indiuiduation hinauszuschreiten / 1988 und das eine weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet / 1989 er an sich den in den dingen verborgenen urwiderspruch, das heisst, er / 1990 freuelt und leidet. so wird von den ariern der freuel als mann, / 1991 von den semiten die suende als weib verstanden, so wie auch der / 1992 urfreuel vom manne, die ursuende vom weibe begangen wird. / 1993 uebrigens sagt der hexenchor / 1994 wir nehmen das nicht so genau: / 1995 mit tausend schritten macht 's die frau; / 1996 doch wie sie auch sich eilen kann, / 1997 mit einem sprunge macht 's der mann. / 1998 wer jenen innersten kern der prometheussage versteht / 1999 naemlich die dem titanisch strebenden indiuiduum gebotene / 2 nothwendigkeit des freuels, der muss auch zugleich das unapollinische / 2001 dieser pessimistischen vorstellung empfinden; denn / 2002 apollo will die einzelwesen gerade dadurch zur ruhe bringen, / 2003 dass er grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder / 2004 an diese als an die heiligsten weltgesetze mit seinen forderungen / 2005 der selbsterkenntniss und des maasses erinnert. damit / 2006 aber bei dieser apollinischen tendenz die form nicht zu aegyptischer / 2007 steifigkeit und kaelte erstarre, damit nicht unter dem bemuehen, / 2008 der einzelnen welle ihre bahn und ihr bereich vorzuschreiben, / 2009 die bewegung des ganzes sees ersterbe, zerstoerte von / 2010 zeit zu zeit wieder die hohe fluth des dionysischen alle jene / 2011 kleinen zirkel, in die der einseitig apollinische wille das hellenenthum / 2012 zu bannen suchte. jene ploetzlich anschwellende fluth / 2013 des dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen wellenberge / 2014 der indiuiduen auf ihren ruecken wie der bruder des prometheus, / 2015 $V00 C0067 L 1 2016 der titan atlas: die erde. dieser titanische drang, gleichsam der / 2017 atlas aller einzelnen zu werden und sie mit breitem ruecken / 2018 hoeher und hoeher, weiter und weiter zu tragen, ist das gemeinsame / 2019 zwischen dem prometheischen und dem dionysischen. der / 2020 aeschyleische prometheus ist in diesem betracht eine dionysische / 2021 maske, waehrend in jenem vorhin erwaehnten tiefen zuge nach / 2022 gerechtigkeit aeschylus seine uaeterliche abstammung von / 2023 apollo, dem gotte der indiuiduation und der gerechtigkeitsgrenze / 2024 dem einsichtigen verraeth. und so moechte das doppelwesen / 2025 des aeschyleischen prometheus, seine zugleich dionysische und / 2026 apollinische natur, in begrifflicher formel so ausgedrueckt werden / 2027 koennen: alles vorhandene ist gerecht und ungerecht und in / 2028 beidem gleichberechtigt. / 2029 das ist deine welt. das heisst eine welt. / 2030 es ist eine unanfechtbare ueberlieferung, dass die griechische / 2031 tragoedie in ihrer aeltesten gestalt nur die leiden des dionysus / 2032 zum gegenstand hatte und dass der laengere zeit hindurch einzig / 2033 vorhandene buehnenheld eben dionysus war. aber mit der / 2034 gleichen sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf / 2035 euripides dionysus aufgehoert hat, der tragische held zu sein, / 2036 sondern dass alle die beruehmten figuren der griechischen buehne: / 2037 prometheus, oedipus und so weiter nur masken jenes urspruenglichen / 2038 helden dionysus sind. dass hinter allen diesen masken eine / 2039 gottheit steckt, das ist der eine wesentliche grund fuer die so oft / 2040 angestaunte typische idealitaet jener beruehmten figuren. es hat / 2041 ich weiss nicht wer behauptet, dass alle indiuiduen als indiuiduen / 2042 komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen waere, / 2043 dass die griechen ueberhaupt indiuiduen auf der tragischen buehne / 2044 nicht ertragen konnten. in der that scheinen sie so empfunden / 2045 zu haben: wie ueberhaupt jene platonische unterscheidung / 2046 und werthabschaetzung der idee im gegensatze zum idol, / 2047 $V00 C0068 L 1 2048 zum abbild, tief im hellenischen wesen begruendet liegt. um uns / 2049 aber der terminologie platos zu bedienen, so waere von den tragischen / 2050 gestalten der hellenischen buehne etwa so zu reden: der / 2051 eine wahrhaft reale dionysus erscheint in einer uielheit der gestalten, / 2052 in der maske eines kaempfenden helden und gleichsam / 2053 in das netz des einzelwillens verstrickt. so wie jetzt der erscheinende / 2054 gott redet und handelt, aehnelt er einem irrenden, strebenden, / 2055 leidenden indiuiduum: und dass er ueberhaupt mit dieser / 2056 epischen bestimmtheit und deutlichkeit erscheint, ist die / 2057 wirkung des traumdeuters apollo, der dem chore seinen dionysischen / 2058 zustand durch jene gleichnissartige erscheinung deutet. in / 2059 wahrheit aber ist jener held der leidende dionysus der mysterien, / 2060 jener die leiden der indiuiduation an sich erfahrende gott, / 2061 von dem wundervolle mythen erzaehlen, wie er als knabe von den / 2062 titanen zerstueckelt worden sei und nun in diesem zustande als / 2063 zagreus, beiname des dionysos, verehrt werde wobei angedeutet wird, dass diese z / 2064 das eigentlich dionysisch leiden, gleich einer umwandlung / 2065 in luft, wasser, erde und fever sei, dass wir also den / 2066 zustand der indiuiduation als den quell und urgrund alles leidens, / 2067 als etwas an sich verwerfliches, zu betrachten haetten. aus / 2068 dem laecheln dieses dionysus sind die olympischen goetter, aus / 2069 seinen thraenen die menschen entstanden. in jener existenz als / 2070 zerstueckelter gott hat dionysus die doppelnatur eines grausamen, / 2071 verwilderten daemons und eines milden, sanftmuethigen / 2072 herrschers. die hoffnung der epopten beschaver, schauenden ging aber auf eine / 2073 wiedergeburt des dionysus, die wir jetzt als das ende der indiuiduation / 2074 ahnungsvoll zu begreifen haben diesem kommenden / 2075 dritten dionysus erscholl der brausende jubelgesang der / 2076 epopten. und nur in dieser hoffnung giebt es einen strahl von / 2077 freude auf dem antlitze der zerrissenen, in indiuiduen zertruemmerten / 2078 welt: wie es der mythus durch die in ewige traver versenkte / 2079 demeter verbildlicht, welche zum ersten male wieder / 2080 sich freut, als man ihr sagt, sie koenne den dionysus noch / 2081 einmal gebaeren. in den angefuehrten anschauungen haben / 2082 $V00 C0069 L 1 2083 wir bereits alle bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen / 2084 weltbetrachtung und zugleich damit die mysterienlehre / 2085 der tragoedie zusammen: die grunderkenntniss von / 2086 der einheit alles vorhandenen, die betrachtung der indiuiduation / 2087 als des urgrundes des uebels, die kunst als die freudige / 2088 hoffnung, dass der bann der indiuiduation zu zerbrechen sei, / 2089 als die ahnung einer wiederhergestellten einheit. / 2090 es ist frueher angedeutet worden, dass das homerische epos / 2091 die dichtung der olympischen cultur ist, mit der sie ihr eignes / 2092 siegeslied ueber die schrecken des titanenkampfes gesungen hat. / 2093 jetzt, unter dem uebermaechtigen einflusse der tragischen dichtung, / 2094 werden die homerischen mythen von neuem umgeboren / 2095 und zeigen in dieser metempsychose (seelenwanderung) dass inzwischen auch die / 2096 olympische cultur von einer noch tieferen weltbetrachtung besiegt / 2097 worden ist. der trotzige titan prometheus hat es seinem / 2098 olympischen peiniger angekuendigt, dass einst seiner herrschaft / 2099 die hoechste gefahr drohe, falls er nicht zur rechten zeit sich mit / 2100 ihm verbinden werde. in aeschylus erkennen wir das buendniss / 2101 des erschreckten, vor seinem ende bangenden zeus mit dem / 2102 titanen. so wird das fruehere titanenzeitalter nachtraeglich wieder / 2103 aus dem tartarus ans licht geholt. die philosophie der / 2104 wilden und nackten natur schaut die voruebertanzenden mythen / 2105 der homerischen welt mit der unverhuellten miene der wahrheit / 2106 an sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen auge dieser / 2107 goettin bis sie die maechtige faust des dionysischen kuenstlers / 2108 in den dienst der neuen gottheit zwingt. die dionysische wahrheit / 2109 uebernimmt das gesammte bereich des mythus als symbolik / 2110 ihrer erkenntnisse und spricht diese theils in dem oeffentlichen / 2111 cultus der tragoedie, theils in den geheimen begehungen dramatischer / 2112 mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen / 2113 huelle aus. welche kraft war dies, die den prometheus von seinen / 2114 geiern befreite und den mythus zum uehikel dionysischer weisheit / 2115 umwandelte. dies ist die herakles maessige kraft der musik: / 2116 als welche, in der tragoedie zu ihrer hoechsten erscheinung gekommen, / 2117 $V00 C0070 L 1 2118 den mythus mit never tiefsinnigster bedeutsamkeit zu / 2119 interpretiren weiss; wie wir dies als das maechtigste vermoegen der / 2120 musik frueher schon zu charakterisiren hatten. denn es ist das / 2121 loos jedes mythus, allmaehlich in die enge einer angeblich historischen / 2122 wirklichkeit hineinzukriechen und von irgendeiner / 2123 spaeteren zeit als einmaliges factum mit historischen anspruechen / 2124 behandelt zu werden: und die griechen waren bereits voellig auf / 2125 dem wege, ihren ganzen mythischen jugendtraum mit scharfsinn / 2126 und willkver in eine historisch pragmatische jugendgeschichte / 2127 umzustempeln. denn dies ist die art, wie religionen / 2128 abzusterben pflegen: wenn naemlich die mythischen voraussetzungen / 2129 einer religion unter den strengen, verstandesmaessigen augen / 2130 eines rechtglaeubigen dogmatismus als eine fertige summe von / 2131 historischen ereignissen systematisirt werden und man anfaengt, / 2132 aengstlich die glaubwuerdigkeit der mythen zu vertheidigen aber / 2133 gegen jedes natverliche weiterleben und weiterwuchern derselben / 2134 sich zu straeuben, wenn also das gefuehl fuer den mythus abstirbt / 2135 und an seine stelle der anspruch der religion auf historische / 2136 grundlagen tritt. diesen absterbenden mythus ergriff jetzt der / 2137 neugeborne genius der dionysischen musik: und in seiner hand / 2138 bluehte er noch einmal, mit farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit / 2139 einem duft, der eine sehnsuechtige ahnung einer metaphysischen / 2140 welt erregte. nach diesem letzten aufglaenzen faellt er zusammen, / 2141 seine blaetter werden welk, und bald haschen die spoettischen / 2142 luciane des alterthums nach den von allen winden fortgetragnen, / 2143 entfaerbten und verwuesteten blumen. durch die tragoedie / 2144 kommt der mythus zu seinem tiefsten inhalt, seiner ausdrucksvollsten / 2145 form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter / 2146 held, und der ganze ueberfluss von kraft, sammt der weisheitsvollen / 2147 ruhe des sterbenden, brennt in seinem auge mit / 2148 letztem, maechtigem leuchten. / 2149 was wolltest du, freuelnder euripides, als du diesen sterbenden / 2150 noch einmal zu deinem frohndienste zu zwingen suchtest. / 2151 er starb unter deinen gewaltsamen haenden: und jetzt brauchtest / 2152 $V00 C0071 L 1 2153 du einen nachgemachten, maskirten mythus, der sich wie der affe / 2154 des herakles mit dem alten prunke nur noch aufzuputzen wusste. / 2155 und wie dir der mythus starb, so starb dir auch der genius der / 2156 musik: mochtest du auch mit gierigem zugreifen alle gaerten der / 2157 musik pluendern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten / 2158 maskirten musik. und weil du dionysus verlassen, so / 2159 verliess dich auch apollo; jage alle leidenschaften von ihrem / 2160 lager auf und banne sie in deinen kreis, spitze und feile dir fuer / 2161 die reden deiner helden eine sophistische dialektik zurecht / 2162 auch deine helden haben nur nachgeahmte maskirte leidenschaften / 2163 und sprechen nur nachgeahmte maskirte reden. / 2164 die griechische tragoedie ist anders zugrunde gegangen als / 2165 saemtliche aelteren schwesterlichen kunstgattungen: sie starb durch / 2166 selbstmord, infolge eines unloesbaren conflictes also tragisch, / 2167 waehrend jene alle in hohem alter des schoensten und ruhigsten / 2168 todes verblichen sind. wenn es naemlich einem gluecklichen naturzustande / 2169 gemaess ist, mit schoener nachkommenschaft und ohne / 2170 krampf vom leben zu scheiden, so zeigt uns das ende jener / 2171 aelteren kunstgattungen einen solchen gluecklichen naturzustand: / 2172 sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden blicken / 2173 steht schon ihr schoenerer nachwuchs und reckt mit muthiger gebaerde / 2174 ungeduldig das haupt. mit dem tode der griechischen / 2175 tragoedie dagegen entstand eine ungeheure, ueberall tiefempfundene / 2176 leere; wie einmal griechische schiffer zu zeiten des tiberius / 2177 an einem einsamen eiland den erschuetternden schrei hoerten: der / 2178 grosse pan ist todt so klang es jetzt wie ein schmerzlicher klageton / 2179 durch die hellenische welt: die tragoedie ist todt. die poesie / 2180 selbst ist mit ihr verlorengegangen. fort, fort mit euch verkuemmerten, / 2181 abgemagerten epigonen. fort in den hades, damit / 2182 ihr euch dort an den brosamen der vormaligen meister einmal / 2183 satt essen koennt. / 2184 $V00 C0072 L 1 2185 als aber nun doch noch eine neue kunstgattung aufbluehte, / 2186 die in der tragoedie ihre vorgaengerin und meisterin verehrte, da / 2187 war mit schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die zuege / 2188 ihrer mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen / 2189 todeskampfe gezeigt hatte. diesen todeskampf der tragoedie / 2190 kaempfte euripides; jene spaetere kunstgattung ist als nevere / 2191 attische komoedie bekannt. in ihr lebte die entartete / 2192 gestalt der tragoedie fort, zum denkmale ihres ueberaus muehseligen / 2193 und gewaltsamen hinscheidens. / 2194 bei diesem zusammenhange ist die leidenschaftliche zuneigung / 2195 begreiflich, welche die dichter der neveren komoedie zu / 2196 euripides empfanden; so dass der wunsch des philemon nicht / 2197 weiter befremdet, der sich sogleich aufhaengen lassen mochte, nur / 2198 um den euripides in der unterwelt aufsuchen zu koennen: wenn / 2199 er nur ueberhaupt ueberzeugt sein dverfte, dass der verstorbene / 2200 auch jetzt noch bei verstande sei. will man aber in aller kverze / 2201 und ohne den anspruch, damit etwas erschoepfendes zu sagen, / 2202 dasjenige bezeichnen, was euripides mit menander und philemon / 2203 gemein hat und was fuer jene so aufregend vorbildlich wirkte: / 2204 so genuegt es zu sagen, dass der zuschaver von euripides auf / 2205 die buehne gebracht worden ist. wer erkannt hat, aus welchem / 2206 stoffe die prometheischen tragiker vor euripides ihre helden / 2207 formten und wie ferne ihnen die absicht lag, die treue maske / 2208 der wirklichkeit auf die buehne zu bringen, der wird auch ueber / 2209 die gaenzlich abweichende tendenz des euripides im klaren sein. / 2210 der mensch des alltaeglichen lebens drang durch ihn aus den / 2211 zuschaverraeumen auf die scene der spiegel, in dem frueher nur / 2212 die grossen und kuehnen zuege zum ausdruck kamen, zeigte jetzt / 2213 jene peinliche treue, die auch die misslungenen linien der natur / 2214 gewissenhaft wiedergibt. odysseus, der typische hellene der / 2215 aelteren kunst, sank jetzt unter den haenden der neveren dichter / 2216 zur figur der graeculus herab, der von jetzt ab als gutmuethig / 2217 verschmitzter haussclaue im mittelpunkte des dramatischen / 2218 interesses steht. was euripides sich in den aristophanischen / 2219 $V00 C0073 L 1 2220 froeschen zum verdienst anrechnet, dass er die tragische kunst / 2221 durch seine hausmittel von ihrer pomphaften beleibtheit befreit / 2222 habe, das ist vor allem an seinen tragischen helden zu spveren. / 2223 im wesentlichen sah und hoerte jetzt der zuschaver seinen doppelgaenger / 2224 auf der euripideischen buehne und freute sich, dass jener / 2225 so gut zu reden verstehe. bei dieser freude blieb es aber nicht. / 2226 man lernte selbst bei euripides sprechen, und dessen ruehmt er sich / 2227 selbst im wettkampfe mit aeschylus: wie durch ihn jetzt das / 2228 volk kunstmaessig und mit den schlausten sophisticationen zu / 2229 beobachten, zu verhandeln und folgerungen zu ziehen gelernt / 2230 habe. durch diesen umschwung der oeffentlichen sprache hat er / 2231 ueberhaupt die nevere komoedie moeglich gemacht. denn von jetzt / 2232 ab war es kein geheimniss mehr, wie und mit welchen sentenzen / 2233 die alltaeglichkeit sich auf der buehne vertreten koenne. die bvergerliche / 2234 mittelmaessigkeit, auf die euripides alle seine politischen / 2235 hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu wort, nachdem bis dahin / 2236 in der tragoedie der halbgott, in der komoedie der betrunkene / 2237 satyr oder der halbmensch den sprachcharakter bestimmt hatten. / 2238 und so hebt der aristophanische euripides zu seinem preise / 2239 hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltaegliche leben und / 2240 treiben dargestellt habe, ueber das ein jeder zu urtheilen befaehigt / 2241 sei. wenn jetzt die ganze masse philosophiere, mit unerhoerter / 2242 klugheit land und gut verwalte und ihre prozesse fuehre, so sei / 2243 dies sein verdienst und der erfolg der von ihm dem volke eingeimpften / 2244 weisheit. / 2245 an eine derartige zubereitete und aufgeklaerte masse durfte / 2246 sich jetzt die nevere komoedie wenden, fuer die euripides gewissermaassen / 2247 der chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der chor / 2248 der zuschaver eingeuebt werden musste. sobald dieser in der euripideischen / 2249 tonart zu singen geuebt war, erhob sich jene schachspielartige / 2250 gattung des schauspiels, die nevere komoedie, mit / 2251 ihrem fortwaehrenden triumphe der schlauheit und verschlagenheit. / 2252 euripides aber der chorlehrer wurde unaufhoerlich / 2253 gepriesen: ja, man wuerde sich getoedtet haben, um noch mehr von / 2254 $V00 C0074 L 1 2255 ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst haette, dass die tragischen / 2256 dichter ebenso todt seien wie die tragoedie. mit ihr aber hatte / 2257 der hellene den glauben an seine unsterblichkeit aufgegeben, / 2258 nicht nur den glauben an eine ideale vergangenheit, sondern / 2259 auch den glauben an eine ideale zukunft. das wort aus der bekannten / 2260 grabschrift als greis leichtsinnig und grillig gilt auch / 2261 vom greisen hellenenthume. der augenblick, der witz, der / 2262 leichtsinn, die laune sind seine hoechsten gottheiten; der fuenfte / 2263 stand, der des sclauen kommt, wenigstens der gesinnung nach, / 2264 jetzt zur herrschaft: und wenn jetzt ueberhaupt noch von griechischer / 2265 heiterkeit die rede sein darf, so ist es die heiterkeit / 2266 des sclauen der nichts schweres zu verantworten, nichts grosses / 2267 zu erstreben, nichts vergangenes oder zukuenftiges hoeher zu / 2268 schaetzen weiss als das gegenwaertige. dieser schein der griechischen / 2269 heiterkeit war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren / 2270 naturen der uier ersten jahrhunderte des christentums so / 2271 empoerte: ihnen erschien diese weibische flucht vor dem ernst und / 2272 dem schrecken, dieses feige sichgenuegenlassen am bequemen genuss / 2273 nicht nur veraechtlich, sondern als die eigentlich antichristliche / 2274 gesinnung. und ihrem einfluss ist es zuzuschreiben, dass die / 2275 durch jahrhunderte fortlebende anschauung des griechischen / 2276 alterthums mit fast unueberwindlicher zaehigkeit jene blassrothe / 2277 heiterkeitsfarbe festhielt als ob es nie ein sechstes jahrhundert / 2278 mit seiner geburt der tragoedie, seinen mysterien, seinen pythagoras / 2279 und heraklit gegeben haette, ja als ob die kunstwerke der / 2280 grossen zeit gar nicht vorhanden waeren, die doch jedes fuer / 2281 sich aus dem boden einer solchen greisenhaften und sclauenmaessigen / 2282 daseinslust und heiterkeit gar nicht zu erklaeren sind / 2283 und auf eine voellig andere weltbetrachtung als ihren existenzgrund / 2284 hinweisen. / 2285 wenn zuletzt behauptet wurde, dass euripides den zuschaver / 2286 auf die buehne gebracht habe, um zugleich damit den zuschaver / 2287 zum urtheil ueber das drama erst wahrhaft zu befaehigen, so entsteht / 2288 der schein, als ob die aeltere tragische kunst aus einem / 2289 $V00 C0075 L 1 2290 missverhaeltniss zum zuschaver nicht herausgekommen sei: und / 2291 man moechte versucht sein, die radicale tendenz des euripides, ein / 2292 entsprechendes verhaeltniss zwischen kunstwerk und publicum / 2293 zu erzielen, als einen fortschritt ueber sophokles hinaus zu preisen. / 2294 nun aber ist publicum nur ein wort und durchaus keine / 2295 gleichartige und in sich verharrende groesse. woher soll dem / 2296 kuenstler die verpflichtung kommen, sich einer kraft zu accomodiren / 2297 die ihre staerke nur in der zahl hat. und wenn er sich, / 2298 seiner begabung und seinen absichten nach, ueber jeden einzelnen / 2299 dieser zuschaver erhaben fuehlt, wie dverfte er vor dem gemeinsamen / 2300 ausdruck aller dieser ihm untergeordneten capacitaeten / 2301 mehr achtung empfinden als vor dem relatiu am hoechsten begabten / 2302 einzelnen zuschaver. in wahrheit hat kein griechischer / 2303 kuenstler mit groesserer verwegenheit und selbstgenuegsamkeit / 2304 sein publicum durch ein langes leben hindurch behandelt als / 2305 gerade euripides: er, der selbst da noch, als die masse sich ihm / 2306 zu fuessen warf, in erhabenem trotze seiner eigenen tendenz / 2307 oeffentlich ins gesicht schlug, derselben tendenz, mit der er ueber / 2308 die masse gesiegt hatte. wenn dieser genius die geringste ehrfurcht / 2309 vor dem pandaemonium des publicums gehabt haette, so / 2310 waere er unter den keulenschlaegen seiner misserfolge laengst vor / 2311 der mitte seiner laufbahn zusammengebrochen. wir sehen bei / 2312 dieser erwaegung, dass unser ausdruck, euripides habe den zuschaver / 2313 auf die buehne gebracht, um den zuschaver wahrhaft / 2314 urtheilsfaehig zu machen, nur ein prouisorischer war und dass / 2315 wir nach einem tieferen verstaendniss seiner tendenz zu suchen / 2316 haben. umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie aeschylus und / 2317 sophokles zeit ihres lebens, ja weit ueber dasselbe hinaus, im / 2318 vollbesitze der volksgunst standen, wie also bei diesen vorgaengern / 2319 des euripides keineswegs von einem missverhaeltniss / 2320 zwischen kunstwerk und publicum die rede sein kann. was / 2321 trieb den reichbegabten und unablaessig zum schaffen gedraengten / 2322 kuenstler so gewaltsam von dem wege ab, ueber dem die sonne / 2323 der groessten dichternamen und der unbewoelkte himmel der / 2324 $V00 C0076 L 1 2325 volksgunst leuchteten. welche sonderbare ruecksicht auf den / 2326 zuschaver fuehrte ihn dem zuschaver entgegen. wie konnte er aus / 2327 zu hoher achtung vor seinem publicum sein publicum missachten. / 2328 euripides fuehlte sich das ist die loesung des eben dargestellten / 2329 raethsels als dichter wohl ueber die masse, nicht aber ueber / 2330 zwei seiner zuschaver erhaben: die masse brachte er auf die / 2331 buehne, jene beiden zuschaver verehrte er als die allein / 2332 urtheilsfaehigen richter und meister aller seiner kunst; ihren weisungen / 2333 und mahnungen folgend, uebertrug er die ganze welt von empfindungen, / 2334 leidenschaften und erfahrungen, die bis jetzt auf den / 2335 zuschaverbaenken als unsichtbarer chor zu jeder festvorstellung / 2336 sich einstellten, in die seelen seiner buehnenhelden, ihren forderungen / 2337 gab er nach, als er fuer diese neuen charaktere auch das / 2338 neue wort und den neuen thon suchte, in ihren stimmungen allein / 2339 hoerte er die gueltigen richtersprueche seines schaffens ebenso wie / 2340 die siegverheissende ermuthigung wenn er von der justiz des / 2341 publicums sich wieder einmal verurtheilt sah. / 2342 von diesen beiden zuschavern ist der eine euripides selbst, / 2343 euripides als denker, nicht als dichter. von ihm koennte / 2344 man sagen, dass die ausserordentliche fuelle seines kritischen / 2345 talentes, aehnlich wie bei lessing, einen productiu kuenstlerischen / 2346 nebentrieb, wenn nicht erzeugt, so doch fortwaehrend befruchtet / 2347 habe. mit dieser begabung, mit aller helligkeit und behendigkeit / 2348 seines kritischen denkens hatte euripides im theater gesessen / 2349 und sich angestrengt, an den meisterwerken seiner grossen / 2350 vorgaenger wie an dunkel gewordenen gemaelden zug um zug, / 2351 linie um linie wiederzverkennen. und hier nun war ihm begegnet, / 2352 was dem in die tieferen geheimnisse der aeschyleischen / 2353 tragoedie eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte / 2354 etwas incommensurables in jedem zug und in jeder linie, eine / 2355 gewisse taeuschende bestimmtheit und zugleich eine raethselhafte / 2356 tiefe, ja unendlichkeit des hintergrundes. die klarste figur / 2357 hatte immer noch einen kometenschweif an sich, der ins ungewisse, / 2358 $V00 C0077 L 1 2359 unaufhellbare zu deuten schien. dasselbe zwielicht lag / 2360 ueber dem bau des dramas, zumal ueber der bedeutung des / 2361 chors. und wie zweifelhaft blieb ihm die loesung der ethischen / 2362 probleme. wie fragwuerdig die behandlung der mythen. wie / 2363 ungleichmaessig die vertheilung von glueck und unglueck. selbst / 2364 in der sprache der aelteren tragoedie war ihm uieles anstoessig, / 2365 mindestens raethselhaft besonders fand er zu uiel pomp fuer einfache / 2366 verhaeltnisse, zu uiel tropen und ungeheverlichkeiten fuer / 2367 die schlichtheit der charaktere. so sass er, unruhig gruebelnd, im / 2368 theater, und er, der zuschaver, gestand sich, dass er seine grossen / 2369 vorgaenger nicht verstehe. galt ihm aber der verstand als die / 2370 eigentliche wurzel alles geniessens und schaffens, so musste er / 2371 fragen und um sich schauen, ob denn niemand so denke wie er / 2372 und sich gleichfalls jene incommensurabilitaet eingestehe. aber die / 2373 uielen und mit ihnen die besten einzelnen hatten nur ein misstrauisches / 2374 laecheln fuer ihn; erklaeren aber konnte ihm keiner, / 2375 warum seinen bedenken und einwendungen gegenueber die grossen / 2376 meister doch im rechte seien. und in diesem qualvollen zustande / 2377 fand er den anderen zuschaver, der die tragoedie / 2378 nicht begriff und deshalb nicht achtete. mit diesem im / 2379 bunde durfte er es wagen, aus seiner vereinsamung heraus den / 2380 ungeheuren kampf gegen die kunstwerke des aeschylus und / 2381 sophokles zu beginnen nicht mit streitschriften, sondern als / 2382 dramatischer dichter, der seine vorstellung von der tragoedie / 2383 der ueberlieferten entgegenstellt. / 2384 bevor wir diesen anderen zuschaver bei namen nennen, verharren / 2385 wir hier einen augenblick, um uns jenen frueher geschilderten / 2386 eindruck des zwiespaeltigen und incommensurablen im / 2387 wesen der aeschyleischen tragoedie selbst ins gedaechtnis zurueckzurufen. / 2388 denken wir an unsere eigene befremdung dem / 2389 chore und dem tragischen helden jener tragoedie / 2390 gegenueber, die wir beide mit unseren gewohnheiten ebensowenig / 2391 $V00 C0078 L 1 2392 wie mit der ueberlieferung zu reimen wussten bis wir jene / 2393 doppelheit selbst als ursprung und wesen der griechischen / 2394 tragoedie wiederfanden, als den ausdruck zweier ineinandergewobener / 2395 kunsttriebe, des apollinischen und des / 2396 dionysischen. / 2397 jenes urspruengliche und allmaechtige dionysische element aus / 2398 der tragoedie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer / 2399 kunst, sitte und weltbetrachtung aufzubauen dies ist / 2400 die jetzt in heller beleuchtung sich uns enthuellende tendenz des / 2401 euripides. / 2402 euripides selbst hat am abend seines lebens die frage nach / 2403 dem werth und der bedeutung dieser tendenz in einem mythus / 2404 seinen zeitgenossen auf das nachdruecklichste vorgelegt. darf / 2405 ueberhaupt das dionysische bestehn. ist es nicht mit gewalt aus / 2406 dem hellenischen boden auszurotten. gewiss, sagt uns der dichter, / 2407 wenn es nur moeglich waere; aber der gott dionysus ist zu / 2408 maechtig; der verstaendigste gegner wie pentheus in den / 2409 bacchen wird unvermuthet von ihm bezaubert und laeuft / 2410 nachher mit dieser verzauberung in sein verhaengnis. das urtheil / 2411 der beiden greise kadmus und tiresias scheint auch das / 2412 urtheil des greisen dichters zu sein: das nachdenken der kluegsten / 2413 einzelnen werfe jene alten volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende / 2414 verehrung des dionysus nicht um, ja es gezieme sich, / 2415 solchen wunderbaren kraeften gegenueber mindestens eine diplomatisch / 2416 vorsichtige theilnahme zu zeigen: wobei es aber immer / 2417 noch moeglich sei, dass der gott an einer so lauen betheiligung / 2418 anstoss nehme und den diplomaten wie hier den kadmus / 2419 schliessich in einen drachen verwandle. dies sagt uns ein dichter, / 2420 der mit heroischer kraft ein langes leben hindurch dem dionysus / 2421 widerstanden hat um am ende desselben mit einer glorification / 2422 seines gegners und einem selbstmorde seine laufbahn / 2423 zu schliessen, einem schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, / 2424 nicht mehr ertraeglichen wirbel zu entgehn, sich vom / 2425 thurme herunterstverzt. jene tragoedie ist ein protest gegen die / 2426 $V00 C0079 L 1 2427 ausfuehrbarkeit seiner tendenz; ach, und sie war bereits ausgefuehrt. / 2428 das wunderbare war geschehn: als der dichter widerrief, / 2429 hatte bereits seine tendenz gesiegt. dionysus war bereits von der / 2430 tragischen buehne verscheucht, und zwar durch eine aus euripides / 2431 redende daemonische macht. auch euripides war in gewissem / 2432 sinne nur maske: die gottheit, die aus ihm redete, war nicht / 2433 dionysus, auch nicht apollo, sonderen ein ganz neugeborner / 2434 daemon, genannt sokrates. dies ist der neue gegensatz: das / 2435 dionysische und das sokratische, und das kunstwerk der griechischen / 2436 tragoedie ging an ihm zugrunde. mag nun auch euripides / 2437 uns durch seinen widerruf zu troesten suchen, es gelingt ihm nicht: / 2438 der herrlichste tempel liegt in truemmern; was nuetzt uns die / 2439 wehklage des zerstoerers und sein gestaendnis, dass es der / 2440 schoenste aller tempel gewesen sei. und selbst dass euripides zur / 2441 strafe von den kunstrichtern aller zeiten in einen drachen verwandelt / 2442 worden ist wen moechte diese erbaermliche compensation / 2443 befriedigen. / 2444 naehern wir uns jetzt jener sokratischen tendenz, mit / 2445 der euripides die aeschyleische tragoedie bekaempfte und besiegte. / 2446 welches ziel so muessen wir uns jetzt fragen konnte die / 2447 euripideische absicht, das drama allein auf das undionysische zu / 2448 gruenden, in der hoechsten idealitaet ihrer durchfuehrung ueberhaupt / 2449 haben. welche form des dramas blieb noch uebrig, wenn es nicht / 2450 aus dem geburtsschoosse der musik, in jenem geheimnissvollen / 2451 zwielicht des dionysischen geboren werden sollte. allein das / 2452 dramatisirte epos: in welchem apollinischen kunstgebiete / 2453 nun freilich die tragische wirkung unerreichbar ist. / 2454 es kommt hierbei nicht auf den inhalt der dargestellten ereignisse / 2455 an; ja ich moechte behaupten, dass es goethe in seiner projectirten / 2456 nausikaa unmoeglich gewesen sein wuerde, den selbstmord / 2457 jenes idyllischen wesens der den fuenften act ausfuellen / 2458 sollte tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die gewalt / 2459 des episch apollinischen, dass es die schreckensvollsten / 2460 dinge mit jener lust am scheine und der erloesung durch den / 2461 $V00 C0080 L 1 2462 schein vor unseren augen verzaubert. der dichter des dramatisirten / 2463 epos kann ebensowenig wie der epische rhapsode mit / 2464 seinen bildern voellig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegt, / 2465 aus weiten augen blickende anschauung, die die bilder / 2466 vor sich sieht. der schauspieler in diesem dramatisirten epos / 2467 bleibt im tiefsten grunde immer noch rhapsode; die weihe des / 2468 inneren traeumens liegt auf allen seinen actionen so dass er niemals / 2469 ganz schauspieler ist. / 2470 wie verhaelt sich nun diesem ideal des apollinischen dramas / 2471 gegenueber das euripideische stueck. wie zu dem feierlichen rhapsoden / 2472 der alten zeit jener juengere, der sein wesen im platonischen / 2473 ion also beschreibt: wenn ich etwas trauriges sage, / 2474 fuellen sich meine augen mit thraenen ist aber das, was ich sage, / 2475 schrecklich und entsetzlich, dann stehen die haare meines / 2476 hauptes vor schauder zu berge und mein herz klopft. hier merken / 2477 wir nichts mehr von jenem epischen verlorensein im scheine, von / 2478 der affectlosen kuehle des wahren schauspielers, der gerade in / 2479 seiner hoechsten thaetigkeit ganz schein und lust am scheine ist. / 2480 euripides ist der schauspieler mit dem klopfenden herzen, mit / 2481 den zu berge stehenden haaren; als sokratischer denker entwirft / 2482 er den plan, als leidenschaftlicher schauspieler fuehrt er ihn aus. / 2483 reiner kuenstler ist er weder im entwerfen noch im ausfuehren. / 2484 so ist das euripideische drama ein zugleich kuehles und feuriges / 2485 ding, zum erstarren und zum verbrennen gleich befaehigt; es ist / 2486 ihm unmoeglich, die apollinische wirkung des epos zu erreichen, / 2487 waehrend es sich andererseits von den dionysischen elementen / 2488 moeglichst geloest hat und jetzt, um ueberhaupt zu wirken, neue / 2489 erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden / 2490 einzigen kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, / 2491 liegen koennen. diese erregunsmittel sind kuehle paradoxe gedanken / 2492 an stelle der apollinischen anschauungen und / 2493 feurige affecte an stelle der dionysischen entzueckungen, / 2494 und zwar hoechst realistisch nachgemachte, keineswegs in den / 2495 aether der kunst getauchte gedanken und affecte. / 2496 $V00 C0081 L 1 2497 haben wir demnach so uiel erkannt, dass es euripides ueberhaupt / 2498 nicht gelungen ist, das drama allein auf das apollinische / 2499 zu gruenden, dass sich uielmehr seine undionysische tendenz in / 2500 eine naturalistische und unkuenstlerische verirrt hat, so werden / 2501 wir jetzt dem wesen des aesthetischen sokratismus / 2502 schon naehertreten dverfen; dessen oberstes gesetz ungefaehr so / 2503 lautet: alles muss verstaendig sein, um schoen zu sein; als parallelsatz / 2504 zu dem sokratischen nur der wissende ist tugendhaft. / 2505 mit diesem kanon in der hand maass euripides alles einzelne / 2506 und rectificirte es gemaess diesem prinzip: die sprache, die / 2507 charaktere, den dramaturgischen aufbau, die chormusik. / 2508 was wir im vergleich mit der sophokleischen tragoedie so haeufig dem / 2509 euripides als dichterischen mangel und rueckschritt anzurechnen / 2510 pflegen, das ist zumeist das product jenes eindringenden kritischen / 2511 prozesses, jener verwegenen verstaendigkeit. der euripideische / 2512 prolog diene uns als beispiel fuer die productiuitaet / 2513 jener rationalistischen methode. nichts kann unserer buehnentechnik / 2514 widerstrebender sein als der prolog im drama des euripides. / 2515 dass eine einzelne auftretende person am eingange des / 2516 stueckes erzaehlt, wer sie sei, was der handlung vorangehe, was bis / 2517 jetzt geschehen, ja was im verlaufe des stueckes geschehen werde, / 2518 das wuerde ein moderner theaterdichter als ein muthwilliges und / 2519 nicht zu verzeihendes verzichtleisten auf den effect der spannung / 2520 bezeichnen. man weiss ja alles, was geschehen wird; wer / 2521 wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht, da ja hier / 2522 keinesfalls das aufregende verhaeltniss eines wahrsagenden traumes / 2523 zu einer spaeter eintretenden wirklichkeit stattfindet. ganz / 2524 anders reflectirte euripides. die wirkung der tragoedie beruhte / 2525 niemals auf der epischen spannung, auf der anreizenden ungewissheit, / 2526 was sich jetzt und nachher ereignen werde: uielmehr / 2527 auf jenen grossen rhetorisch lyrischen scenen in denen die / 2528 leidenschaft und die dialektik des haupthelden zu einem breiten / 2529 und maechtigen strome anschwoll. zum pathos, nicht zur handlung / 2530 bereitete alles vor: und was nicht zum pathos vorbereitete, / 2531 $V00 C0082 L 1 2532 das galt als verwerflich. das aber, was die genussvolle hingabe / 2533 an solche scenen am staerksten erschwert, ist ein dem zuhoerer / 2534 fehlendes glied, eine luecke im gewebe der vorgeschichte; solange / 2535 der zuhoerer noch ausrechnen muss, was diese und jene / 2536 person bedeute, was dieser und jener conflict der neigungen / 2537 und absichten fuer voraussetzungen habe, ist seine volle versenkung / 2538 in das leiden und thun der hauptpersonen, ist das / 2539 athemlose mitleiden und mitfuerchten noch nicht moeglich. die / 2540 aeschyleisch sophokleische tragoedie verwandte die geistreichsten / 2541 kunstmittel, um dem zuschaver in den ersten scenen gewissermaassen / 2542 zufaellig alle jene zum verstaendniss nothwendigen faeden / 2543 in die hand zu geben: ein zug, in dem sich jene edle kuenstlerschaft / 2544 bewaehrt, die das nothwendige formelle gleichsam / 2545 maskirt und als zufaelliges erscheinen laesst. immerhin aber / 2546 glaubte euripides zu bemerken, dass waehrend jener ersten scenen / 2547 der zuschaver in eigenthuemlicher unruhe sei, um das rechenexempel / 2548 der vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen / 2549 schoenheiten und das pathos der exposition fuer ihn verlorenginge. / 2550 deshalb stellte er den prolog noch vor die exposition / 2551 und legte ihn einer person in den mund, der man vertrauen / 2552 schenken durfte: eine gottheit musste haeufig den verlauf der / 2553 tragoedie dem publicum gewissermaassen garantieren und jeden / 2554 zweifel an der realitaet des mythus nehmen: in aehnlicher weise, / 2555 wie descartes die realitaet der empirischen welt nur durch die / 2556 appellation an die wahrhaftigkeit gottes und seine unfaehigkeit / 2557 zur luege zu beweisen vermochte. dieselbe goettliche wahrhaftigkeit / 2558 braucht euripides noch einmal am schlusse seines dramas, / 2559 um die zukunft seiner helden dem publicum sicherzustellen; / 2560 dies ist die aufgabe des beruechtigten deus ex machina. zwischen / 2561 der epischen vorschau und hinausschau liegt die dramatisch / 2562 lyrische gegenwart, das eigentliche drama. / 2563 so ist euripides als dichter vor allem der widerhall seiner / 2564 bewussten erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so / 2565 denkwuerdige stellung in der geschichte der griechischen kunst. / 2566 $V00 C0083 L 1 2567 ihm muss im hinblick auf sein kritisch productiues schaffen / 2568 oft zumute gewesen sein, als sollte er den anfang der schrift / 2569 des anaxagoras fuer das drama lebendig machen, deren erste / 2570 worte lauten: im anfang war alles beisammen; da kam der / 2571 verstand und schuf ordnung. und wenn anaxagoras mit / 2572 seinem nous unter den philosophen wie der erste nuechterne / 2573 unter lauter trunkenen erschien, so mag auch euripides sein / 2574 verhaeltniss zu den anderen dichtern der tragoedie unter einem / 2575 aehnlichen bilde begriffen haben. solange der einzige ordner und / 2576 walter des alls, der nous noch vom kuenstlerischen schaffen / 2577 ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen urbrei / 2578 beisammen; so musste euripides urtheilen so musste er die trunkenen / 2579 dichter als der erste nuechterne verurtheilen. das, was / 2580 sophokles von aeschylus gesagt hat, er thue das rechte, obschon / 2581 unbewusst, war gewiss nicht im sinne des euripides gesagt: der / 2582 nur so uiel haette gelten lassen, dass aeschylus, weil er unbewusst / 2583 schaffe, das unrechte schaffe. auch der goettliche plato redet / 2584 vom schoepferischen vermoegen des dichters, insofern dies nicht / 2585 die bewusste einsicht ist, zuallermeist nur ironisch und stellt es / 2586 der begabung des wahrsagers und traumdeuters gleich; sei doch / 2587 der dichter nicht eher faehig zu dichten, als bis er bewusstlos / 2588 geworden sei und kein verstand mehr in ihm wohne. euripides / 2589 unternahm es, wie es auch plato unternommen hat, das gegenstueck / 2590 des unverstaendigen dichters der welt zu zeigen; sein / 2591 aesthetischer grundsatz: alles muss bewusst sein, um schoen zu / 2592 sein ist, wie ich sagte, der parallelsatz zu dem sokratischen / 2593 alles muss bewusst sein, um gut zu sein. demgemaess darf uns / 2594 euripides als der dichter des aesthetischen sokratismus gelten. / 2595 sokrates aber war jener zweite zuschaver, der die aeltere / 2596 tragoedie nicht begriff und deshalb nicht achtete; mit ihm im / 2597 bunde wagte euripides, der herold eines neuen kunstschaffens / 2598 zu sein. wenn an diesem die aeltere tragoedie zugrunde ging, / 2599 so ist also der aesthetische sokratismus das moerderische prinzip: / 2600 insofern aber der kampf gegen das dionysische der aelteren kunst / 2601 $V00 C0084 L 1 2602 gerichtet war, erkennen wir in sokrates den gegner des dionysus, / 2603 den neuen orpheus, der sich gegen dionysus erhebt und, / 2604 obschon bestimmt, von den maenaden des athenischen gerichtshofes / 2605 zerrissen zu werden, doch den uebermaechtigen gott selbst / 2606 zur flucht noethigt welcher, wie damals, als er vor dem edonerkoenig / 2607 lykurg floh, sich in die tiefen des meeres rettete, naemlich / 2608 in die mystischen fluten eines die ganze welt allmaehlich ueberziehenden / 2609 geheimcultus. / 2610 dass sokrates eine enge beziehung der tendenz zu euripides / 2611 habe, entging dem gleichzeitigen alterthume nicht; und der / 2612 beredteste ausdruck fuer diesen gluecklichen spversinn ist jene in / 2613 athen umlaufende sage, sokrates pflege dem euripides im / 2614 dichten zu helfen. beide namen wurden von den anhaengern / 2615 der guten alten zeit in einem athem genannt, wenn es galt, / 2616 die volksverfuehrer der gegenwart aufzuzaehlen: von deren einflusse / 2617 es herruehre, dass die alte marathonische uierschroetige tuechtigkeit / 2618 an leib und seele immer mehr einer zweifelhaften aufklaerung, / 2619 bei fortschreitender verkuemmerung der leiblichen und / 2620 seelischen kraefte, zum opfer falle. in dieser tonart, halb mit / 2621 entruestung, halb mit verachtung, pflegt die aristophanische / 2622 komoedie von jenen maennern zu reden, zum schrecken der / 2623 neveren, welche zwar euripides gerne preisgeben, aber sich nicht / 2624 genug darueber wundern koennen, dass sokrates als der erste und / 2625 oberste sophist, als der spiegel und inbegriff aller sophistischen / 2626 bestrebungen bei aristophanes erscheine: wobei es einzig / 2627 einen trost gewaehrt, den aristophanes selbst als einen luederlich / 2628 luegenhaften alcibiades der poesie an den pranger zu stellen. / 2629 ohne an dieser stelle die tiefen instincte des aristophanes gegen / 2630 solche angriffe in schutz zu nehmen, fahre ich fort, die enge / 2631 zusammengehoerigkeit des sokrates und des euripides aus der / 2632 $V00 C0085 L 1 2633 antiken empfindung heraus zu erweisen; in welchem sinne namentlich / 2634 daran zu erinnern ist, dass sokrates als gegner der / 2635 tragischen kunst sich des besuchs der tragoedie enthielt und / 2636 nur, wenn ein neues stueck des euripides aufgefuehrt wurde, sich / 2637 unter den zuschavern einstellte. am beruehmtesten ist aber die / 2638 nahe zusammenstellung beider namen in dem delphischen / 2639 orakelspruche, welcher sokrates als den weisesten unter den / 2640 menschen bezeichnet, zugleich aber das urtheil abgab, dass dem / 2641 euripides der zweite preis im wettkampfe der weisheit gebuehre. / 2642 als der dritte in dieser stufenleiter war sophokles genannt; / 2643 er, der sich gegen aeschylus ruehmen durfte, er thue das rechte, / 2644 und zwar weil er wisse, was das rechte sei. offenbar ist / 2645 gerade der grad der helligkeit dieses wissens dasjenige, / 2646 was jene drei maenner gemeinsam als die drei wissenden ihrer / 2647 zeit auszeichnet. / 2648 das schaerfste wort aber fuer jene neue und unerhoerte hochschaetzung / 2649 des wissens und der einsicht sprach sokrates, als er / 2650 sich als den einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu / 2651 wissen; waehrend er, auf seiner kritischen wanderung durch / 2652 athen, bei den groessten staatsmaennern, rednern, dichtern und / 2653 kuenstlern vorsprechend, ueberall die einbildung des wissens / 2654 antraf. mit staunen erkannte er, dass alle jene beruehmtheiten / 2655 selbst ueber ihren beruf ohne richtige und sichere einsicht seien / 2656 und denselben nur aus instinct trieben. nur aus instinct mit / 2657 diesem ausdruck beruehren wir herz und mittelpunkt der sokratischen / 2658 tendenz. mit ihm verurtheilt der sokratismus ebenso / 2659 die bestehende kunst wie die bestehende ethik; wohin er seine / 2660 pruefenden blicke richtet, sieht er den mangel der einsicht und / 2661 die macht des wahns und schliesst aus diesem mangel auf die / 2662 innerliche verkehrtheit und verwerflichkeit des vorhandenen. / 2663 von diesem einen punkte aus glaubte sokrates das dasein corrigieren / 2664 zu muessen: er, der einzelne, tritt mit der miene der / 2665 nichtachtung und der ueberlegenheit, als der vorlaeufer einer / 2666 ganz anders gearteten cultur kunst und moral, in eine welt / 2667 $V00 C0086 L 1 2668 hinein, deren zipfel mit ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum / 2669 groessten gluecke rechnen wuerden. / 2670 dies ist die ungehevere bedenklichkeit, die uns jedesmal angesichts / 2671 des sokrates ergreift und die uns immer und immer / 2672 wieder anreizt, sinn und absicht dieser fragwuerdigsten erscheinung / 2673 des alterthums zu erkennen. wer ist das, der es wagen darf, / 2674 als ein einzelner das griechische wesen zu verneinen, das als / 2675 homer, pindar und aeschylus, als phidias als perikles, als pythia / 2676 und dionysus, als der tiefste abgrund und die hoechste hoehe / 2677 unserer staunenden anbetung gewiss ist. welche daemonische / 2678 kraft ist es, die diesen zaubertrank in den staub zu schuetten sich / 2679 erkuehnen darf. welcher halbgott ist es, dem der geisterchor der / 2680 edelsten der menschheit zurufen muss: weh, weh. du hast / 2681 sie zerstoert, die schoene welt, mit maechtiger faust; sie stverzt, / 2682 sie zerfaellt. / 2683 einen schluessel zu dem wesen des sokrates bietet uns jene / 2684 wunderbare erscheinung, die als daemonion des sokrates bezeichnet / 2685 wird. in besonderen lagen, in denen sein ungeheurer / 2686 verstand ins schwanken gerieth gewann er einen festen anhalt / 2687 durch eine in solchen momenten sich aeusserende goettliche stimme. / 2688 diese stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. die / 2689 instinctiue weisheit zeigt sich bei dieser gaenzlich abnormen / 2690 natur nur, um dem bewussten erkennen hier und da hindernd / 2691 entgegenzutreten. waehrend doch bei allen productiuen / 2692 menschen der instinct gerade die schoepferisch affirmatiue kraft / 2693 ist und das bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebaerdet: / 2694 wird bei sokrates der instinct zum kritiker, das bewusstsein / 2695 zum schoepfer, eine wahre monstrositaet per defectum. und / 2696 zwar nehmen wir hier einen monstroesen defectus jeder mystischen / 2697 anlage wahr, so dass sokrates als der specifische nichtmystiker / 2698 zu bezeichnen waere, in dem die logische natur / 2699 durch eine superfoetation ebenso excessiu entwickelt ist wie im / 2700 mystiker jene instinctiue weisheit. andrerseits aber war es jenem / 2701 in sokrates erscheinenden logischen triebe voellig versagt, sich / 2702 $V00 C0087 L 1 2703 gegen sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen dahinstroemen / 2704 zeigt er eine naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergroessten / 2705 instinktiuen kraeften zu unsrer schaudervollen ueberraschung / 2706 antreffen. wer nur einen hauch von jeder goettlichen naiuetaet / 2707 und sicherheit der sokratischen lebensrichtung aus den platonischen / 2708 schriften gespvert hat, der fuehlt auch, wie das ungeheure / 2709 triebrad des logischen sokratismus gleichsam hinter sokrates / 2710 in bewegung ist und wie dies durch sokrates wie durch einen / 2711 schatten hindurch angeschaut werden muss. dass er aber selbst / 2712 von diesem verhaeltniss eine ahnung hatte, das drueckt sich in / 2713 dem wuerdevollen ernste aus, mit dem er seine goettliche berufung / 2714 ueberall und noch vor seinen richtern geltend machte. ihn darin / 2715 zu widerlegen war im grunde ebenso unmoeglich, als seinen die / 2716 instincte aufloesenden einfluss gutzuheissen. bei diesem unloesbaren / 2717 conflicte war, als er einmal vor das forum des griechischen / 2718 staates gezogen war, nur eine einzige form der verurteilung / 2719 geboten: die verbannung; als etwas durchaus raethselhaftes unrubricirbares / 2720 unaufklaerbares haette man ihn ueber die grenze / 2721 weisen dverfen, ohne dass irgendeine nachwelt im recht gewesen / 2722 waere, die athener einer schmaehlichen that zu zeihen. dass aber / 2723 der tod und nicht nur die verbannung ueber ihn ausgesprochen / 2724 wurde, das scheint sokrates selbst, mit voelliger klarheit und / 2725 ohne den natverlichen schauder vor dem tode, durchgesetzt zu / 2726 haben: er ging in den tod, mit jener ruhe, mit der er nach platos / 2727 schilderung als der letzte der zecher im fruehen tagesgrauen das / 2728 symposion verlaesst, um einen neuen tag zu beginnen indes / 2729 hinter ihm, auf den baenken und auf der erde, die verschlafenen / 2730 tischgenossen zurueckbleiben, um von sokrates, dem wahrhaften / 2731 erotiker, zu traeumen. der sterbende sokrates wurde / 2732 das neue, noch nie sonst geschaute ideal der edlen griechischen / 2733 jugend: vor allen hat sich der typische hellenische juengling, plato, / 2734 mit aller inbruenstigen hingebung seiner schwaermerseele vor / 2735 diesem bilde niedergeworfen. / 2736 $V00 C0088 L 2 2737 denken wir uns jetzt das eine grosse cyklopenauge des / 2738 sokrates auf die tragoedie gewandt, jenes auge, in dem nie der / 2739 holde wahnsinn kuenstlerischer begeisterung geglueht hat denken / 2740 wir uns, wie es jenem auge versagt war, in die dionysischen / 2741 abgruende mit wohlgefallen zu schauen: was eigentlich musste / 2742 es in der erhabenen und hochgepriesenen tragischen kunst, wie / 2743 sie plato nennt, erblicken. etwas recht unvernuenftiges, mit ursachen, / 2744 die ohne wirkungen, und mit wirkungen, die ohne / 2745 ursachen zu sein schienen, dazu das ganze so bunt und mannichfaltig, / 2746 dass es einer besonnenen gemuethsart widerstreben muesse, / 2747 fuer reizbare und empfindliche seelen aber ein gefaehrlicher zunder / 2748 sei. wir wissen, welche einzige gattung der dichtkunst von ihm / 2749 begriffen wurde: die aesopische fabel; und dies geschah / 2750 gewiss mit jener laechelnden anbequemung, mit welcher der ehrliche / 2751 gute gellert in der fabel von der biene und der henne das / 2752 lob der poesie singt: / 2753 du siehst an mir, wozu sie nuetzt, / 2754 dem, der nicht uiel verstand besitzt, / 2755 die wahrheit durch ein bild zu sagen. / 2756 nun aber schien sokrates die tragische kunst nicht einmal die / 2757 wahrheit zu sagen: abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, / 2758 der nicht uiel verstand besitzt, also nicht an den philosophen: / 2759 ein zweifacher grund, von ihr fernzubleiben. wie / 2760 plato rechnete er sie zu den schmeichlerischen kuensten, die nur / 2761 das angenehme, nicht das nuetzliche darstellen, und verlangte / 2762 deshalb bei seinen juengern enthaltsamkeit und strenge absonderung / 2763 von solchen unphilosophischen reizungen; mit solchem / 2764 erfolge, dass der jugendliche tragoediendichter plato zuallererst / 2765 seine dichtungen verbrannte, um schueler des sokrates werden zu / 2766 koennen. wo aber unbesiegbare anlagen gegen die sokratischen / 2767 maximen ankaempften, war die kraft derselben, sammt der wucht / 2768 $V00 C0089 L 1 2769 jenes ungeheuren charakters, immer noch gross genug, um die / 2770 poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte stellungen zu / 2771 draengen. / 2772 ein beispiel dafuer ist der eben genannte plato: er, der in der / 2773 verurteilung der tragoedie und der kunst ueberhaupt gewiss / 2774 nicht hinter dem naiuen cynismus seines meisters zurueckgeblieben / 2775 ist, hat doch aus voller kuenstlerischer nothwendigkeit eine / 2776 kunstform schaffen muessen, die gerade mit den vorhandenen und / 2777 von ihm abgewiesenen kunstformen innerlich verwandt ist. der / 2778 hauptvorwurf, den plato der aelteren kunst zu machen hatte / 2779 dass sie nachahmung eines scheinbildes sei, also noch einer / 2780 niedrigeren sphaere, als die empirische welt ist, angehoere, durfte / 2781 vor allem nicht gegen das neue kunstwerk gerichtet werden: und / 2782 so sehen wir denn plato bestrebt, ueber die wirklichkeit hinauszugehn / 2783 und die jener pseudowirklichkeit zugrunde liegende / 2784 idee darzustellen. damit aber war der denker plato auf einem / 2785 umwege ebendahin gelangt, wo er als dichter stets heimisch / 2786 gewesen war und von wo aus sophokles und die ganze aeltere / 2787 kunst feierlich gegen jenen vorwurf protestirten. wenn die tragoedie / 2788 alle frueheren kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so / 2789 darf dasselbe wiederum in einem excentrischen sinne vom platonischen / 2790 dialoge gelten, der, durch mischung aller vorhandenen / 2791 stile und formen erzeugt, zwischen erzaehlung, lyrik, drama, / 2792 zwischen prosa und poesie in der mitte schwebt und damit auch / 2793 das strenge aeltere gesetz der einheitlichen sprachlichen form / 2794 durchbrochen hat; auf welchem wege die cynischen schriftsteller / 2795 noch weiter gegangen sind, die in der groessten buntscheckigkeit / 2796 des stils, im hinundherschwanken zwischen prosaischen / 2797 und metrischen formen, auch das literarische bild des / 2798 rasenden sokrates, den sie im leben darzustellen pflegten, / 2799 erreicht haben. der platonische dialog war gleichsam der kahn, / 2800 auf dem sich die schiffbruechige aeltere poesie sammt allen ihren / 2801 kindern rettete: auf einen engen raum zusammengedraengt und / 2802 dem einen stevermann sokrates aengstlich unterthaenig fuhren / 2803 $V00 C0090 L 1 2804 sie jetzt in eine neue welt hinein, die an dem phantastischen / 2805 bilde dieses aufzugs sich nie satt sehen konnte. wirklich hat fuer / 2806 die ganze nachwelt plato das vorbild einer neuen kunstform / 2807 gegeben, das vorbild des romans: der als die unendlich / 2808 gesteigerte aesopische fabel zu bezeichnen ist, in der die poesie / 2809 in einer aehnlichen rangordnung zur dialektischen philosophie / 2810 lebt, wie uiele jahrhunderte hindurch dieselbe philosophie zur / 2811 theologie: naemlich als ancilla ancilla dienerin dies war die neue stellung der / 2812 poesie, in die sie plato unter dem drucke des daemonischen sokrates / 2813 draengte. / 2814 hier ueberwaechst der philosophische gedanke die / 2815 kunst und zwingt sie zu einem engen sichanklammern an den / 2816 stamm der dialektik. in dem logischen schematismus hat sich / 2817 die apollinische tendenz verpuppt: wie wir bei euripides / 2818 etwas entsprechendes und ausserdem eine uebersetzung des / 2819 dionysischen in den naturalistischen affect wahrzunehmen / 2820 hatten. sokrates, der dialektische held im platonischen / 2821 drama, erinnert uns an die verwandte natur des euripideischen / 2822 helden, der durch grund und gegengrund seine handlungen / 2823 vertheidigen muss und dadurch so oft in gefahr geraeth unser / 2824 tragisches mitleiden einzubuessen: denn wer vermoechte das optimistische / 2825 element im wesen der dialektik zu verkennen, / 2826 das in jedem schlusse sein jubelfest feiert und allein in kuehler / 2827 helle und bewusstheit athmen kann: das optimistische element, / 2828 das, einmal in die tragoedie eingedrungen, ihre dionysischen / 2829 regionen allmaehlich ueberwuchern und sie nothwendig zur selbstvernichtung / 2830 treiben muss bis zum todessprunge ins bvergerliche / 2831 schauspiel. man vergegenwaertige sich nur die consequenzen / 2832 der sokratischen saetze: tugend ist wissen; es wird nur gesuendigt / 2833 aus unwissenheit; der tugendhafte ist der glueckliche / 2834 in diesen drei grundformen des optimismus liegt der tod der / 2835 tragoedie. denn jetzt muss der tugendhafte held dialektiker sein, / 2836 jetzt muss zwischen tugend und wissen, glaube und moral ein / 2837 nothwendiger sichtbarer verband sein, jetzt ist die transcendentale / 2838 $V00 C0091 L 1 2839 gerechtigkeitsloesun des aeschylus zu dem flachen und / 2840 frechen prinzip der poetischen gerechtigkeit mit seinem ueblichen / 2841 deus ex machina erniedrigt. / 2842 wie erscheint dieser neuen sokratisch optimistischen buehnenwelt / 2843 gegenueber jetzt der chor und ueberhaupt der ganze musikalisch / 2844 dionysische untergrund der tragoedie. als etwas zufaelliges, / 2845 als eine auch wohl zu missende reminiscenz an den / 2846 ursprung der tragoedie; waehrend wir doch eingesehen haben, / 2847 dass der chor nur als ursache der tragoedie und des tragischen / 2848 ueberhaupt verstanden werden kann. schon bei sophokles / 2849 zeigt sich jene verlegenheit in betreff des chors ein wichtiges / 2850 zeichen, dass schon bei ihm der dionysische boden der tragoedie / 2851 zu zerbroeckeln beginnt. er wagt es nicht mehr, dem chor den / 2852 hauptantheil der wirkung anzuvertrauen, sondern schraenkt sein / 2853 bereich dermassen ein, dass er jetzt fast den schauspielern coordinirt / 2854 erscheint, gleich als ob er aus der orchestra in die scene / 2855 hineingehoben wuerde: womit freilich sein wesen voellig zerstoert / 2856 ist, mag auch aristoteles gerade dieser auffassung des chors / 2857 seine beistimmung geben. jene verrueckung der chorposition, / 2858 welche sophokles jedenfalls durch seine praxis und, der ueberlieferung / 2859 nach, sogar durch eine schrift anempfohlen hat, ist der / 2860 erste schritt zur vernichtung des chors, deren phasen in / 2861 euripides, agathon und der neveren komoedie mit erschreckender / 2862 schnelligkeit aufeinanderfolgen. die optimistische dialektik / 2863 treibt mit der geissel ihrer syllogismen die musik aus / 2864 der tragoedie: das heisst, sie zerstoert das wesen der tragoedie, welches / 2865 sich einzig als eine manifestation und verbildlichung dionysischer / 2866 zustaende, als sichtbare symbolisirung der musik, als die traumwelt / 2867 eines dionysischen rausches interpretiren laesst. / 2868 haben wir also sogar eine schon vor sokrates wirkende / 2869 antidionysische tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhoert / 2870 grossartigen ausdruck gewinnt: so muessen wir nicht vor der / 2871 frage zurueckschrecken, wohin denn eine solche erscheinung wie / 2872 die des sokrates deute die wir doch nicht imstande sind, angesichts / 2873 $V00 C0092 L 1 2874 der platonischen dialoge, als eine nur aufloesende negatiue / 2875 macht zu begreifen. und so gewiss die allernaechste wirkung / 2876 des sokratischen triebes auf eine zersetzung der dionysischen / 2877 tragoedie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige lebenserfahrung / 2878 des sokrates selbst zu der frage, ob denn zwischen dem sokratismus / 2879 und der kunst nothwendig nur ein antipodisches / 2880 verhaeltniss bestehe und ob die geburt eines kuenstlerischen / 2881 sokrates ueberhaupt etwas in sich widerspruchsvolles sei. / 2882 jener despotische logiker hatte naemlich hier und da der / 2883 kunst gegenueber das gefuehl einer luecke, einer leere, eines halben / 2884 vorwurfs, einer uielleicht versaeumten pflicht. oefters kam ihm, / 2885 wie er im gefaengniss seinen freunden erzaehlt, ein und dieselbe / 2886 traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: sokrates, treibe / 2887 musik. er beruhigte sich bis zu seinen letzten tagem mit der / 2888 meinung, sein philosophieren sei die hoechste musenkunst, und / 2889 glaubt nicht recht, dass eine gottheit ihn an jene gemeine, / 2890 populaere musik erinnern werde. endlich im gefaengniss versteht / 2891 er sich, um sein gewissen gaenzlich zu entlasten, auch dazu, / 2892 jene von ihm geringgeachtete musik zu treiben. und in dieser / 2893 gesinnung dichtet er ein prooemium auf apollo und bringt einige / 2894 aesopische fabeln in verse. das war etwas der daemonischen / 2895 warnenden stimme aehnliches, was ihn zu diesen uebungen / 2896 draengte, es war seine apollinische einsicht, dass er wie ein barbarenkoenig / 2897 ein edles goetterbild nicht verstehe und in der gefahr / 2898 sei, sich an einer gottheit zu versuendigen durch sein nichtverstehn. / 2899 jenes wort der sokratischen traumerscheinung ist das / 2900 einzige zeichen einer bedenklichkeit ueber die grenzen der logischen / 2901 natur: uielleicht so musste er sich fragen ist das / 2902 mir nichtverstaendliche doch nicht auch sofort das unverstaendige. / 2903 uielleicht giebt es ein reich der weisheit, aus dem der / 2904 logiker verbannt ist. uielleicht ist die kunst sogar ein nothwendiges / 2905 correlatiuum und supplement der wissenschaft. / 2906 $V00 C0093 L 2 2907 im sinne dieser letzten ahnungsvollen fragen muss nun / 2908 ausgesprochen werden, wie der einfluss des sokrates, bis auf / 2909 diesen moment hin, ja in alle zukunft hinaus, sich, gleich einem / 2910 in der abendsonne immer groesser werdenden schatten, ueber die / 2911 nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur neuschaffung / 2912 der kunst und zwar der kunst im bereits metaphysischen, / 2913 weitesten und tiefsten sinne immer wieder noethigt und, bei / 2914 seiner eignen unendlichkeit, auch deren unendlichkeit verbvergt. / 2915 bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste abhaengigkeit / 2916 jeder kunst von den griechen, den griechen von / 2917 homer bis auf sokrates, ueberzeugend dargethan war, musste es / 2918 uns mit diesen griechen ergehen wie den athenern mit sokrates. / 2919 fast jede zeit und bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem missmuthe / 2920 von den griechen zu befreien gesucht, weil angesichts / 2921 derselben alles selbstgeleistete, scheinbar voellig originelle und / 2922 recht aufrichtig bewunderte ploetzlich farbe und leben zu verlieren / 2923 schien und zur misslungenen copie ja zur caricatur zusammenschrumpfte. / 2924 und so bricht immer von neuem einmal der / 2925 herzliche ingrimm gegen jenes anmaassliche voelkchen hervor, / 2926 das sich erkuehnte, alles nichteinheimische fuer alle zeiten als / 2927 barbarisch zu bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, / 2928 obschon sie nur einen ephemeren historischen glanz, nur laecherlich / 2929 engbegrenzte institutionen, nur eine zweifelhafte tuechtigkeit / 2930 der sitte aufzuweisen haben und sogar mit haesslichen lastern / 2931 gekennzeichnet sind, doch die wuerde und sonderstellung unter / 2932 den voelkern in anspruch nehmen, die dem genius unter der / 2933 masse zukommt. leider war man nicht so gluecklich, den schierlingsbecher / 2934 zu finden, mit dem ein solches wesen einfach abgethan / 2935 werden konnte: denn alles gift, das neid, verleumdung / 2936 und ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame / 2937 herrlichkeit zu vernichten. und so schaemt und fuerchtet / 2938 man sich vor den griechen; es sei denn, dass einer die wahrheit / 2939 ueber alles achte und so sich auch diese wahrheit einzugestehn / 2940 $V00 C0094 L 1 2941 wage, dass die griechen unsere und jegliche cultur als wagenlenker / 2942 in den haenden haben, dass aber fast immer wagen und / 2943 pferde von zu geringem stoffe und der glorie ihrer fuehrer unangemessen / 2944 sind, die dann es fuer einen scherz erachten, ein solches / 2945 gespann in den abgrund zu jagen: ueber den sie selbst, mit dem / 2946 sprunge des achilles, hinwegsetzen. / 2947 um die wuerde einer solchen fuehrerstellung auch fuer sokrates / 2948 zu erweisen, genuegt es, in ihm den typus einer vor ihm unerhoerten / 2949 daseinsform zu erkennen, den typus des theoretischen / 2950 menschen, ueber dessen bedeutung und ziel zur / 2951 einsicht zu kommen unsere naechste aufgabe ist. auch der theoretische / 2952 mensch hat ein unendliches genuegen am vorhandenen / 2953 wie der kuenstler und ist wie jener vor der praktischen ethik / 2954 des pessimismus und vor seinen nur im finsteren leuchtenden / 2955 lynkeusaugen durch jenes genuegen geschuetzt. wenn naemlich / 2956 der kuenstler bei jeder enthuellung der wahrheit immer nur mit / 2957 verzueckten blicken an dem haengenbleibt, was auch jetzt, nach / 2958 der enthuellung, noch huelle bleibt, geniesst und befriedigt sich / 2959 der theoretische mensch an der abgeworfenen huelle und hat sein / 2960 hoechstes lustziel in dem prozess einer immer gluecklichen, durch / 2961 eigene kraft gelingenden enthuellung. es gaebe keine wissenschaft, / 2962 wenn ihr nur um jene eine nackte goettin und um nichts / 2963 anderes zu thun waere. denn dann muesste es ihren juengern zumute / 2964 sein wie solchen, die ein loch gerade durch die erde / 2965 graben wollten: von denen ein jeder einsieht, dass er bei groesster / 2966 und lebenslaenglicher anstrengung nur ein ganz kleines stueck / 2967 der ungeheuren tiefe zu durchgraben imstande sei, welches vor / 2968 seinen augen durch die arbeit des naechsten wieder ueberschuettet / 2969 wird, so dass ein dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er / 2970 auf eigne faust eine neue stelle fuer seine bohrversuche waehlt. / 2971 wenn jetzt nun einer zur ueberzeugung beweist, dass auf diesem / 2972 directen wege das antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird / 2973 noch in den alten tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass / 2974 er sich nicht inzwischen genuegen lasse, edles gestein zu finden / 2975 $V00 C0095 L 1 2976 oder naturgesetze zu entdecken. darum hat lessing, der ehrlichste / 2977 theoretische mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm / 2978 mehr am suchen der wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit / 2979 das grundgeheimniss der wissenschaft, zum erstaunen, ja aerger / 2980 der wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. nun steht freilich / 2981 neben dieser vereinzelten erkenntniss als einem excess der ehrlichkeit, / 2982 wenn nicht des uebermuthes eine tiefsinnige wahnvorstellung, / 2983 welche zverst in der person des sokrates zur / 2984 welt kam jener unerschuetterliche glaube, dass das denken, an / 2985 dem leitfaden der causalitaet bis in die tiefsten abgruende des / 2986 seins reiche und dass das denken das sein nicht nur zu erkennen, / 2987 sondern sogar zu corrigieren imstande sei. dieser erhabene / 2988 metaphysische wahn ist als instinct der wissenschaft beigegeben / 2989 und fuehrt sie immer und immer wieder zu ihren grenzen, an / 2990 denen sie in kunst umschlagen muss: auf welche es / 2991 eigentlich, bei diesem mechanismus, abgesehn / 2992 ist. / 2993 schauen wir jetzt, mit der fackel dieses gedankens, auf / 2994 sokrates hin: so erscheint er uns als der erste, der an der hand / 2995 jenes instinctes der wissenschaft nicht nur leben, sondern was / 2996 bei weitem mehr ist auch sterben konnte: und deshalb ist das / 2997 bild des sterbenden sokrates als des durch wissen und / 2998 gruende der todesfurcht enthobenen menschen das wappenschild, / 2999 das ueber dem einganstor der wissenschaft einen jeden / 3 an deren bestimmung erinnert, naemlich das dasein als begreiflich / 3001 und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen wozu freilich, / 3002 wenn die gruende nicht reichen, schliesslich auch der mythus / 3003 dienen muss, den ich sogar als nothwendige consequenz ja als / 3004 absicht der wissenschaft soeben bezeichnete. / 3005 wer sich einmal anschaulich macht, wie nach sokrates, dem / 3006 mystagogen der wissenschaft, sich eine philosophenschule nach der / 3007 anderen wie welle auf welle abloest, wie eine nie geahnte / 3008 universalitaet der wissensgier in dem weitesten bereich der gebildeten / 3009 welt und als eigentliche aufgabe fuer jeden hoeher befaehigten / 3010 $V00 C0096 L 1 3011 die wissenschaft auf die hohe see fuehrte, von der sie niemals / 3012 seitdem wieder voellig vertrieben werden konnte, wie durch diese / 3013 universalitaet erst ein gemeinsames netz des gedankens ueber den / 3014 gesammten erdball, ja mit ausblicken auf die gesetzlichkeit eines / 3015 ganzen sonnensystems, gespannt wurde; wer dies alles, sammt / 3016 der erstaunlich hohen wissenspyramide der gegenwart, sich vergegenwaertigt, / 3017 der kann sich nicht entbrechen, in sokrates den / 3018 einen wendepunkt und wirbel der sogenannten weltgeschichte / 3019 zu sehen. denn daechte man sich einmal diese ganze unbezifferbare / 3020 summe von kraft, die fuer jene welttendenz verbraucht worden / 3021 ist, nicht im dienste des erkennens, sondern auf die praktischen, / 3022 das heisst egoistischen ziele der indiuiduen und voelker verwendet, / 3023 so waere wahrscheinlich in allgemeinen vernichtungskaempfen / 3024 und fortdavernden voelkerwanderungen die instinctiue / 3025 lust zum leben so abgeschwaecht, dass, bei der gewohnheit des / 3026 selbstmordes, der einzelne uielleicht den letzten rest von pflichtgefuehl / 3027 empfinden muesste, wenn er, wie der bewohner der fidschiinseln, / 3028 als sohn seine eltern, als freund seinen freund erdrosselt: / 3029 ein praktischer pessimismus, der selbst eine grausenhafte ethik / 3030 des voelkermordes aus mitleid erzeugen koennte der uebrigens / 3031 ueberall in der welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht / 3032 die kunst in irgendwelchen formen, besonders als religion und / 3033 wissenschaft, zum heilmittel und zur abwehr jenes pesthauchs / 3034 erschienen ist. / 3035 angesichts dieses praktischen pessimismus ist sokrates das / 3036 urbild des theoretischen optimisten, der in dem bezeichneten / 3037 glauben an die ergruendlichkeit der natur der dinge dem wissen / 3038 und der erkenntniss die kraft einer universalmedizin beilegt / 3039 und im irrthum das uebel an sich begreift. in jene gruende einzudringen / 3040 und die wahre erkenntniss vom schein und vom / 3041 irrthum zu sondern duenkte dem sokratischen menschen der / 3042 edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche beruf zu sein: / 3043 so wie jener mechanismus der begriffe, urtheile und schluesse von / 3044 sokrates ab als hoechste bethaetigung und bewunderungswuerdigs / 3045 $V00 C0097 L 1 3046 gabe der natur ueber alle anderen faehigkeiten geschaetzt wurde. / 3047 selbst die erhabensten sittlichen thaten die regungen des mitleids, / 3048 der aufopferung, des heroismus und jene schwer zu erringende / 3049 meeresstille der seele, die der apollinische grieche sophrosyne / 3050 nannte, wurden von sokrates und seinen gleichgesinnten / 3051 nachfolgern bis auf die gegenwart hin aus der dialektik des / 3052 wissens abgeleitet und demgemaess als lehrbar bezeichnet. wer / 3053 die lust einer sokratischen erkenntniss an sich erfahren hat und / 3054 spvert, wie diese, in immer weiteren ringen, die ganze welt der / 3055 erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen / 3056 stachel, der zum dasein draengen koennte, heftiger empfinden als / 3057 die begierde, jene eroberung zu vollenden und das netz undurchdringbar / 3058 fest zu spinnen. einem so gestimmten erscheint dann / 3059 der platonische sokrates als der lehrer einer ganz neuen form / 3060 der griechischen heiterkeit und daseinsseligkeit, welche sich in / 3061 handlungen zu entladen sucht und diese entladung zumeist in / 3062 maeeutischen erkenntniss durch zwiegespraeche vermittelnden) und erziehenden ein / 3063 zum / 3064 zweck der endlichen erzeugung des genius, finden wird. / 3065 nun aber eilt die wissenschaft, von ihrem kraeftigen wahne / 3066 angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren grenzen, an denen ihr / 3067 im wesen der logik verborgener optimismus scheitert. denn / 3068 die peripherie des kreises der wissenschaft hat unendlich uiele / 3069 punkte, und waehrend noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals / 3070 der kreis voellig ausgemessen werden koennte, so trifft doch der / 3071 edle und begabte mensch noch vor der mitte seines daseins und / 3072 unvermeidlich auf solche grenzpunkte der peripherie, wo er / 3073 in das unaufhellbare starrt. wenn er hier zu seinem schrecken / 3074 sieht, wie die logik sich an diesen grenzen um sich selbst ringelt / 3075 und endlich sich in den schwanz beisst da bricht die neue / 3076 form der erkenntniss durch, die tragische erkenntniss / 3077 die, um nur ertragen zu werden, als schutz und heilmittel / 3078 die kunst braucht. / 3079 schauen wir, mit gestaerkten und an den griechen erlabten / 3080 augen, auf die hoechsten sphaeren derjenigen welt, die uns umfluthet / 3081 $V00 C0098 L 1 3082 so gewahren wir die in sokrates vorbildlich erscheinende / 3083 gier der unersaettlichen optimistischen erkenntniss in tragische / 3084 resignation und kunstbedverftigkeit umgeschlagen: waehrend / 3085 allerdings dieselbe gier, auf ihren niederen stufen, sich kunstfeindlich / 3086 aeussern und vornehmlich die dionysisch tragische kunst / 3087 innerlich verabscheuen muss, wie dies an der bekaempfung der / 3088 aeschyleischen tragoedie durch den sokratismus beispielsweise / 3089 dargestellt wurde. / 3090 hier nun klopfen wir, bewegten gemuethes an die pforten / 3091 der gegenwart und zukunft: wird jenes umschlagen zu immer / 3092 neuen configurationen des genius und gerade des musiktreibenden / 3093 sokrates fuehren. wird das ueber das dasein gebreitete / 3094 netz der kunst, sei es auch unter dem namen der religion / 3095 oder der wissenschaft, immer fester und zarter geflochten / 3096 werden, oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen / 3097 treiben und wirbeln, das sich jetzt die gegenwart nennt, in / 3098 fetzen zu reissen. besorgt, doch nicht trostlos, stehen wir eine / 3099 kleine weile beiseite, als die beschaulichen, denen es erlaubt ist, / 3100 zeugen jener ungeheuren kaempfe und uebergaenge zu sein. ach. / 3101 es ist der zauber dieser kaempfe, dass, wer sie schaut, sie auch / 3102 kaempfen muss. / 3103 an diesem ausgefuehrten historischen beispiel haben wir klarzumachen / 3104 gesucht, wie die tragoedie an dem entschwinden des / 3105 geistes der musik ebenso gewiss zugrunde geht, wie sie aus / 3106 diesem geiste allein geboren werden kann. das ungewoehnliche / 3107 dieser behauptung zu mildern und andererseits den ursprung / 3108 dieser unserer erkenntniss aufzuzeigen, muessen wir uns jetzt / 3109 freien blicks den analogen erscheinungen der gegenwart gegenueberstellen; / 3110 wir muessen mitten hinein in jene kaempfe treten, / 3111 welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersaettlichen optimistischen / 3112 $V00 C0099 L 1 3113 erkenntniss und der tragischen kunstbedverftigkeit in den / 3114 hoechsten sphaeren unserer jetzigen welt gekaempft werden. ich / 3115 will hierbei von allen den anderen gegnerischen trieben absehn, / 3116 die zu jeder zeit der kunst und gerade der tragoedie entgegenarbeiten / 3117 und die auch in der gegenwart in dem masse siegesgewiss / 3118 um sich greifen, dass von den theatralischen kuensten, zum beispiel / 3119 allein die posse und das ballett, in einem einigermaassen ueppigen / 3120 wuchern ihre uielleicht nicht fuer jedermann wohlriechenden / 3121 blueten treiben. ich will nur von der erlauchtesten gegnerschaft / 3122 der tragischen weltbetrachtung reden und meine / 3123 damit die in ihrem tiefsten wesen optimistische wissenschaft, mit / 3124 ihrem ahnherrn sokrates an der spitze. alsbald sollen auch die / 3125 maechte bei namen genannt werden, welche mir eine wiedergeburt / 3126 der tragoedie und welche andere selige / 3127 hoffnungen fuer das deutsche wesen zu verbvergen scheinen. / 3128 bevor wir uns mitten in jene kaempfe hineinstverzen, huellen / 3129 wir uns in die ruestung unsrer bisher eroberten erkenntnisse. im / 3130 gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die kuenste aus / 3131 einem einzigen prinzip, als dem nothwendigen lebensquell jedes / 3132 kunstwerks abzuleiten, halte ich den blick auf jene beiden kuenstlerischen / 3133 gottheiten der griechen, apollo und dionysus, geheftet / 3134 und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen repraesentanten / 3135 zweier in ihrem tiefsten wesen und ihren hoechsten / 3136 zielen verschiedenen kunstwelten. apollo steht vor mir, als der / 3137 verklaerende genius des principii indiuiduationis, durch den / 3138 allein die erloesung im scheine wahrhaft zu erlangen ist: waehrend / 3139 unter dem mystischen jubelruf des dionysus der bann der indiuiduation / 3140 zersprengt wird und der weg zu den muettern des / 3141 seins, zu dem innersten kern der dinge offen liegt. dieser ungehevere / 3142 gegensatz, der sich zwischen der plastischen kunst als / 3143 der apollinischen und der musik als der dionysischen kunst klaffend / 3144 aufthut ist einem einzigen der grossen denker in dem / 3145 masse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene anleitung / 3146 der hellenischen goettersymbolik, der musik einen verschiedenen / 3147 $V00 C0100 L 1 3148 charakter und ursprung vor allen anderen kuensten zverkannte, / 3149 weil sie nicht, wie jene alle, / 3150 abbild der erscheinung, sondern unmittelbar abbild des willens selbst sei und al / 3151 physischen der welt das metaphysische, zu aller / 3152 erscheinung das ding an sich darstelle. / 3153 auf diese wichtigste erkenntniss / 3154 aller aesthetik, mit der, in einem ernstern sinne genommen, / 3155 die aesthetik erst beginnt, hat richard wagner, zur bekraeftigung / 3156 ihrer ewigen wahrheit, seinen stempel gedrueckt, wenn er im / 3157 beethouen feststellt, dass die musik nach ganz anderen aesthetischen / 3158 principien als alle bildenden kuenste und ueberhaupt nicht / 3159 nach der kategorie der schoenheit zu bemessen sei: obgleich eine / 3160 irrige aesthetik, an der hand einer missleiteten und entarteten / 3161 kunst, von jenem in der bildnerischen welt geltenden begriff der / 3162 schoenheit aus sich gewoehnt habe, von der musik eine aehnliche / 3163 wirkung wie von den werken der bildenden kunst zu fordern, / 3164 naemlich der erregung des gefallens an schoenen formen. / 3165 nach der erkenntniss jenes ungeheuren gegensatzes fuehlte / 3166 ich eine starke noethigung mich dem wesen der griechischen / 3167 tragoedie und damit der tiefsten offenbarung des hellenischen / 3168 genius zu nahen: denn erst jetzt glaubte ich des zaubers maechtig / 3169 zu sein, ueber die phraseologie unserer ueblichen aesthetik hinaus, / 3170 das urproblem der tragoedie mir leibhaft vor die seele stellen zu / 3171 koennen: wodurch mir ein so befremdlich eigenthuemlicher blick / 3172 in das hellenische vergoennt war, dass es mir scheinen musste, als / 3173 ob unsre so stolz sich gebaerdende classisch hellenische wissenschaft / 3174 in der hauptsache bis jetzt nur an schattenspielen und / 3175 aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe. / 3176 jenes urproblem moechten wir uielleicht mit dieser frage beruehren: / 3177 welche aesthetische wirkung entsteht, wenn jene an sich / 3178 getrennten kunstmaechte des apollinischen und des dionysischen / 3179 nebeneinander in thaetigkeit gerathen. oder in kverzerer form / 3180 wie verhaelt sich die musik zu bild und begriff. schopenhaver, / 3181 dem richard wagner gerade fuer diesen punkt eine nicht zu ueberbietende / 3182 $V00 C0101 L 1 3183 deutlichkeit und durchsichtigkeit der darstellung nachruehmt, / 3184 aeussert sich hierueber am ausfuehrlichsten in der folgenden / 3185 stelle, die ich hier in ihrer ganzen laenge wiedergeben werde. / 3186 welt als wille von vorstellung i, seite 309 diesem allen zufolge / 3187 koennen wir die erscheinende welt, oder die natur, und die musik / 3188 als zwei verschiedene ausdruecke derselben sache ansehen, welche / 3189 selbst daher das allein vermittelnde der analogie beider ist, dessen / 3190 erkenntniss erfordert wird, um jene analogie einzusehen. / 3191 die musik ist demnach, wenn als ausdruck der welt angesehen, / 3192 eine im hoechsten grad allgemeine sprache, die sich sogar zur allgemeinheit / 3193 der begriffe ungefaehr verhaelt wie diese zu den einzelnen / 3194 dingen. ihre allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere / 3195 allgemeinheit der abstraction sondern ganz anderer art und ist / 3196 verbunden mit durchgaengiger deutlicher bestimmtheit. sie gleicht / 3197 hierin den geometrischen figuren und den zahlen, welche als die / 3198 allgemeinen formen aller moeglichen objekte der erfahrung und / 3199 auf alle a priori anwendbar, doch nicht abstract sondern anschaulich / 3200 und durchgaengig bestimmt sind. alle moeglichen bestrebungen, / 3201 erregungen und aeusserungen des willens, alle jene vorgaenge / 3202 im innern des menschen, welche die vernunft in den weiten / 3203 negatiuen begriff gefuehl wirft, sind durch die unendlich uielen / 3204 moeglichen melodien auszudruecken, aber immer in der allgemeinheit / 3205 blosser form, ohne den stoff, immer nur nach dem ansich, / 3206 nicht nach der erscheinung, gleichsam die innerste seele derselben, / 3207 ohne koerper. aus diesem innigen verhaeltniss welches die musik / 3208 zum wahren wesen aller dinge hat, ist auch dies zu erklaeren, / 3209 dass, wenn zu irgendeiner scene handlung, vorgang, umgebung / 3210 eine passende musik ertoent, diese uns den geheimsten / 3211 sinn derselben aufzuschliessen scheint und als der richtigste und / 3212 deutlichste commentar dazu auftritt; im gleichen, dass es dem, / 3213 der sich dem eindruck einer symphonie ganz hingibt, ist, als saehe / 3214 er alle moeglichen vorgaenge des lebens und der welt an sich vorueberziehen: / 3215 dennoch kann er, wenn er sich besinnt keine aehnlichkeit / 3216 angeben zwischen jenem tonspiel und den dingen, die / 3217 $V00 C0102 L 1 3218 ihm vorschwebten. denn die musik ist, wie gesagt, darin von / 3219 allen anderen kuensten verschieden, dass sie nicht abbild der erscheinung / 3220 oder richtiger: der adaequaten objectiuitaet des willens, / 3221 sondern unmittelbar abbild des willens selbst ist und also zu / 3222 allem physischen der welt das metaphysische, zu aller erscheinung / 3223 das ding an sich darstellt. man koennte demnach die welt / 3224 ebensowohl verkoerperte musik als verkoerperten willen nennen: / 3225 daraus also ist es erklaerlich, warum musik jedes gemaelde, ja / 3226 jede scene des wirklichen lebens und der welt sogleich in erhoehter / 3227 bedeutsamkeit hervortreten laesst; freilich um so mehr, je / 3228 analoger ihre melodie dem innern geiste der gegebenen erscheinung / 3229 ist. hierauf beruht es, dass man ein gedicht als gesang / 3230 oder eine anschauliche darstellung als pantomine oder beides / 3231 als oper der musik unterlegen kann. solche einzelne bilder des / 3232 menschenlebens, der allgemeinen sprache der musik untergelegt, / 3233 sind nie mit durchgaengiger nothwendigkeit ihr verbunden oder / 3234 entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im verhaeltniss eines / 3235 beliebigen beispiels zu einem allgemeinen begriff: sie stellen in / 3236 der bestimmtheit der wirklichkeit dasjenige dar, was die musik / 3237 in der allgemeinheit blosser form aussagt. denn die melodien / 3238 sind gewissermaassen gleich den allgemeinen begriffen, ein abstractum / 3239 der wirklichkeit. diese naemlich, also die welt der einzelnen / 3240 dinge, liefert das anschauliche, das besondere und indiuiduelle, / 3241 den einzelnen fall, sowohl zur allgemeinheit der begriffe / 3242 als zur allgemeinheit der melodien, welche beide allgemeinheiten / 3243 einander aber in gewisser hinsicht entgegengesetzt / 3244 sind; indem die begriffe nur die allererst aus der anschauung abstrahierten / 3245 formen, gleichsam die abgezogene aeussere schale der / 3246 dinge, enthalten, also ganz eigentlich abstracta sind; die musik / 3247 hingegen den innersten aller gestaltung vorhergaengigen kern, / 3248 oder das herz der dinge, giebt. dies verhaeltniss liesse sich recht / 3249 gut in der sprache der scholastiker ausdruecken, indem man sagte / 3250 die begriffe sind die universalia post rem, die musik aber giebt / 3251 die universalia ante rem und die wirklichkeit die universalia in / 3252 $V00 C0103 L 1 3253 re. dass aber ueberhaupt eine beziehung zwischen einer composition / 3254 und einer anschaulichen darstellung moeglich ist, beruht, / 3255 wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene ausdruecke / 3256 desselben innern wesens der welt sind. wann nun im einzelnen / 3257 fall eine solche beziehung wirklich vorhanden ist, also der componist / 3258 die willensregungen, welche den kern einer begebenheit / 3259 ausmachen, in der allgemeinen sprache der musik auszusprechen / 3260 gewusst hat: dann ist die melodie des liedes, die musik der oper / 3261 ausdrucksvoll. die vom componisten aufgefundene analogie / 3262 zwischen jenen beiden muss aber aus der unmittelbaren erkenntniss / 3263 des wesens der welt, seiner vernunft unbewusst, hervorgegangen / 3264 und darf nicht, mit bewusster absichtlichkeit, durch begriffe / 3265 vermittelte nachahmung sein: sonst spricht die musik nicht / 3266 das innere wesen, den willen selbst aus sondern ahmt nur seine / 3267 erscheinung ungenuegend nach; wie dies alle eigentlich nachbildende / 3268 musik thut. / 3269 wir verstehen also, nach der lehre schopenhavers, die musik / 3270 als die sprache des willens unmittelbar und fuehlen unsere phantasie / 3271 angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft / 3272 bewegte geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen / 3273 beispiel uns zu verkoerpern. andrerseits kommt bild und begriff, / 3274 unter der einwirkung einer wahrhaft entsprechenden musik, zu / 3275 einer erhoehten bedeutsamkeit. zweierlei wirkungen pflegt also / 3276 die dionysische kunst auf das apollinische kunstvermoegen auszuueben: / 3277 die musik reizt zum gleichnissartigen anschauen / 3278 der dionysischen allgemeinheit, die musik laesst sodann / 3279 das gleichnissartige bild in hoechster bedeutsamkeit / 3280 hervortreten. aus diesen an sich verstaendlichen und / 3281 keiner tieferen beobachtung unzugaenglichen thatsachen erschliesse / 3282 ich die befaehigung der musik, den mythus, das heisst das / 3283 bedeutsamste exempel, zu gebaeren und gerade den tragischen / 3284 mythus: den mythus, der von der dionysischen erkenntniss in / 3285 gleichnissen redet. an dem phaenomen des lyrikers habe ich dargestellt, / 3286 wie die musik im lyriker darnach ringt, in apollinischen / 3287 $V00 C0104 L 1 3288 bildern ueber ihr wesen sich kundzugeben: denken wir uns jetzt, / 3289 dass die musik in ihrer hoechsten steigerung auch zu einer hoechsten / 3290 verbildlichung zu kommen suchen muss, so muessen wir fuer moeglich / 3291 halten, dass sie auch den symbolischen ausdruck fuer ihre eigentliche / 3292 dionysische weisheit zu finden wisse; und woanders werden / 3293 wir diesen ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der tragoedie / 3294 und ueberhaupt im begriff des tragischen. / 3295 aus dem wesen der kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen / 3296 kategorie des scheines und der schoenheit begriffen wird, ist / 3297 das tragische in ehrlicher weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem / 3298 geiste der musik heraus verstehen wir eine freude an der vernichtung / 3299 des indiuiduums. denn an den einzelnen beispielen / 3300 einer solchen vernichtung wird uns nur das ewige phaenomen der / 3301 dionysischen kunst deutlich gemacht, die den willen in seiner / 3302 allmacht gleichsam hinter dem principio indiuiduationis, das / 3303 ewige leben jenseits aller erscheinung und trotz aller vernichtung / 3304 zum ausdruck bringt. die metaphysische freude am tragischen / 3305 ist eine uebersetzung der instinktiu unbewussten dionysischen / 3306 weisheit in die sprache des bildes: der held, die hoechste / 3307 willenserscheinung, wird zu unserer lust verneint, weil er doch / 3308 nur erscheinung ist und das ewige leben des willens durch seine / 3309 vernichtung nicht beruehrt wird. wir glauben an das ewige / 3310 leben, so ruft die tragoedie; waehrend die musik die unmittelbare / 3311 idee dieses lebens ist. ein ganz verschiednes ziel hat die / 3312 kunst des plastikers: hier ueberwindet apollo das leiden des / 3313 indiuiduums durch die leuchtende verherrlichung der ewigkeit / 3314 der erscheinung, hier siegt die schoenheit ueber das / 3315 dem leben inhaerirende leiden, der schmerz wird in einem gewissen / 3316 sinne aus den zuegen der natur hinweggelogen. in der / 3317 dionysischen kunst und in deren tragischer symbolik redet uns / 3318 dieselbe natur mit ihrer wahren, unverstellten stimme an: seid, / 3319 wie ich bin. unter dem unaufhoerlichen wechsel der erscheinungen / 3320 die ewig schoepferische, ewig zum dasein zwingende, an diesem / 3321 erscheinungswechsel sich ewig befriedigende urmutter. / 3322 $V00 C0105 L 2 3323 auch die dionysische kunst will uns von der ewigen lust des / 3324 daseins ueberzeugen: nur sollen wir diese lust nicht in den erscheinungen, / 3325 sondern hinter den erscheinungen suchen. wir sollen / 3326 erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen untergange / 3327 bereit sein muss, wir werden gezwungen, in die schrecken der / 3328 indiuidualexistenz hineinzublicken und sollen doch nicht erstarren: / 3329 ein metaphysischer trost reisst uns momentan aus dem / 3330 getriebe der wandelgestalten heraus. wir sind wirklich in kurzen / 3331 augenblicken das urwesen selbst und fuehlen dessen unbaendige / 3332 daseinsgier und daseinslust; der kampf, die qual, die vernichtung / 3333 der erscheinungen duenkt uns jetzt wie nothwendig bei / 3334 dem uebermaass von unzaehligen, sich ins leben draengenden / 3335 und stossenden daseinsformen, bei der ueberschwaenglichen fruchtbarkeit / 3336 des weltwillens; wir werden von dem wuethenden stachel / 3337 dieser qualen in demselben augenblicke durchbohrt, wo wir / 3338 gleichsam mit der unermesslichen urlust am dasein eins geworden / 3339 sind und wo wir die unzerstoerbarkeit und ewigkeit dieser / 3340 lust in dionysischer entzueckung ahnen. trotz furcht und mitleid / 3341 sind wir die gluecklich lebendigen nicht als indiuiduen sondern / 3342 als das eine lebendige mit dessen zeugungslust wir verschmolzen / 3343 sind. / 3344 die entstehungsgeschicht der griechischen tragoedie sagt uns / 3345 jetzt mit lichtvoller bestimmtheit, wie das tragische kunstwerk / 3346 der griechen wirklich aus dem geiste der musik herausgeboren / 3347 ist: durch welchen gedanken wir zum ersten male dem urspruenglichen / 3348 und so erstaunlichen sinne des chors gerecht geworden / 3349 zu sein glauben. zugleich aber muessen wir zugeben, dass die vorhin / 3350 aufgestellte bedeutung des tragischen mythus den griechischen / 3351 dichtern, geschweige den griechischen philosophen, niemals / 3352 in begrifflicher deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihre helden / 3353 sprechen gewissermaassen oberflaechlicher, als sie handeln; der / 3354 mythus findet in dem gesprochenen wort durchaus nicht seine adaequate / 3355 objectiuation. das gefuege der scenen und die anschaulichen / 3356 $V00 C0106 L 1 3357 bilder offenbaren eine tiefere weisheit, als der dichter / 3358 selbst in worte und begriffe fassen kann: wie das gleiche auch / 3359 bei shakespeare beobachtet wird, dessen hamlet zum beispiel in einem / 3360 aehnlichen sinne oberflaechlicher redet, als er handelt, so dass nicht / 3361 aus den worten heraus, sondern aus dem vertieften anschauen / 3362 und ueberschauen des ganzen jene frueher erwaehnte hamletlehre / 3363 zu entnehmen ist. in betreff der griechischen tragoedie, die uns / 3364 freilich nur als wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, / 3365 dass jene incongruenz zwischen mythus und wort uns / 3366 leicht verfuehren koennte, sie fuer flacher und bedeutungsloser / 3367 zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflaechlichere / 3368 wirkung fuer sie vorauszusetzen, als sie nach den zeugnissen der / 3369 alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, was / 3370 dem wortdichter nicht gelungen war, die hoechste vergeistigung / 3371 und idealitaet des mythus zu erreichen, ihm als schoepferischen / 3372 musiker in jedem augenblick gelingen konnte. wir freilich muessen / 3373 uns die uebermacht der musikalischen wirkung fast auf gelehrtem / 3374 wege reconstruiren um etwas von jenem unvergleichlichen / 3375 troste zu empfangen, der der wahren tragoedie zu eigen / 3376 sein muss. selbst diese musikalische uebermacht aber wuerden wir / 3377 nur, wenn wir griechen waeren, als solche empfunden haben: / 3378 waehrend wir in der ganzen entfaltung der griechischen musik / 3379 der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren / 3380 gegenueber nur das in schuechternem kraftgefuehle angestimmte / 3381 juenglingslied des musikalischen genius zu hoeren glauben. die / 3382 griechen sind, wie die aegyptischen priester sagen, die ewigen / 3383 kinder, und auch in der tragischen kunst nur die kinder, welche / 3384 nicht wissen, welches erhabene spielzeug unter ihren haenden / 3385 entstanden ist und zertruemmert wird. / 3386 jenes ringen des geistes der musik nach bildlicher und mythischer / 3387 offenbarung, welches von den anfaengen der lyrik bis zur / 3388 attischen tragoedie sich steigert, bricht ploetzlich, nach eben erst / 3389 errungener ueppiger entfaltung, ab und verschwindet gleichsam / 3390 von der oberflaeche der hellenischen kunst: waehrend die aus diesem / 3391 $V00 C0107 L 1 3392 ringen geborne dionysische weltbetrachtung in den mysterien / 3393 weiterlebt und in den wunderbarsten metamorphosen und / 3394 entartungen nicht aufhoert, ernstere naturen an sich zu ziehen. / 3395 ob sie nicht aus ihrer mystischen tiefe einst wieder als kunst / 3396 emporsteigen wird. / 3397 hier beschaeftigt uns die frage, ob die macht, an deren entgegenwirken / 3398 die tragoedie sich brach, fuer alle zeit genug staerke / 3399 hat, um das kuenstlerische widererwachen der tragoedie und der / 3400 tragischen weltbetrachtung zu verhindern. wenn die alte tragoedie / 3401 durch den dialektischen trieb zum wissen und zum optimismus / 3402 der wissenschaft aus ihrem gleise gedraengt wurde, so waere / 3403 aus dieser thatsache auf einen ewigen kampf zwischen der / 3404 theoretischen und der tragischen weltbetrachtung / 3405 zu schliessen; und erst nachdem der geist der wissenschaft / 3406 bis an seine grenze gefuehrt ist und sein anspruch auf universale / 3407 gueltigkeit durch den nachweis jener grenzen vernichtet ist, / 3408 dverfte auf eine wiedergeburt der tragoedie zu hoffen sein: fuer / 3409 welche culturform wir das symbol des musiktreibenden / 3410 sokrates in dem frueher eroerterten sinne hinzustellen haetten. / 3411 bei dieser gegenueberstellung verstehe ich unter dem geiste der / 3412 wissenschaft jenen zverst in der person des sokrates ans licht / 3413 gekommenen glauben an die ergruendlichkeit der natur und an / 3414 die universalheilkraft des wissens. / 3415 wer sich an die naechsten folgen dieses rastlos vorwaertsdringenden / 3416 geistes der wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwaertigen, / 3417 wie durch ihn der mythus vernichtet wurde / 3418 und wie durch diese vernichtung die poesie aus ihrem natverlichen / 3419 idealen boden, als eine nunmehr heimathlose verdraengt war. / 3420 haben wir mit recht der musik die kraft zugesprochen, den / 3421 mythus wieder aus sich gebaeren zu koennen, so werden wir den / 3422 geist der wissenschaft auch auf der bahn zu suchen haben, wo er / 3423 dieser mythenschaffenden kraft der musik feindlich entgegentritt. / 3424 dies geschieht in der entfaltung des neveren attischen / 3425 dithyrambus, dessen musik nicht mehr das innere / 3426 $V00 C0108 L 1 3427 wesen, den willen selbst aussprach, sondern nur die erscheinung / 3428 ungenuegend, in einer durch begriffe vermittelten nachahmung, / 3429 wiedergab: von welcher innerlich entarteten musik sich die wahrhaft / 3430 musikalischen naturen mit demselben widerwillen abwandten, / 3431 den sie vor der kunstmoerderischen tendenz des sokrates / 3432 hatten. der sicher zugreifende instinct des aristophanes hat gewiss / 3433 das rechte erfasst, wenn er sokrates selbst, die tragoedie des / 3434 euripides und die musik der neveren dithyrambiker in dem / 3435 gleichen gefuehle des hasses zusammenfasste und in allen drei / 3436 phaenomenen die merkmale einer degenerirten cultur witterte. / 3437 durch jenen neveren dithyrambus ist die musik in freuelhafter / 3438 weise zum imitatorischen conterfei der erscheinung, zum beispiel einer / 3439 schlacht, eines seesturmes, gemacht und damit allerdings ihrer / 3440 mythenschaffenden kraft gaenzlich beraubt worden. denn wenn / 3441 sie unsere ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns / 3442 zwingt, aeusserliche analogien zwischen einem vorgange des / 3443 lebens und der natur und gewissen rhythmischen figuren und / 3444 charakteristischen klaengen der musik zu suchen, wenn sich unser / 3445 verstand an der erkenntniss dieser analogien befriedigen soll, / 3446 so sind wir in eine stimmung herabgezogen, in der eine empfaengnis / 3447 des mythischen unmoeglich ist; denn der mythus will als ein / 3448 einziges exempel einer ins unendliche hineinstarrenden allgemeinheit / 3449 und wahrheit anschaulich empfunden werden. die / 3450 wahrhaft dionysische musik tritt uns als ein solcher allgemeiner / 3451 spiegel des weltwillens gegenueber: jenes anschauliche ereignis, / 3452 das sich in diesem spiegel bricht, erweitert sich sofort fuer unser / 3453 gefuehl zum abbilde einer ewigen wahrheit. umgekehrt wird / 3454 ein solches anschauliches ereignis durch die tonmalerei des neveren / 3455 dithyrambus sofort jedes mythischen charakters entkleidet; / 3456 jetzt ist die musik zum dverftigen abbilde der erscheinung geworden / 3457 und darum unendlich aermer als die erscheinung selbst / 3458 durch welche armuth sie fuer unsere empfindung die erscheinung / 3459 selbst noch herabzieht, so dass jetzt zum beispiel eine derartig musikalisch / 3460 imitirte schlacht sich in marschlaerm, signalklaengen und so weiter erschoepft / 3461 $V00 C0109 L 1 3462 und unsere phantasie gerade bei diesen oberflaechlichkeiten / 3463 festgehalten wird. die tonmalerei ist also in jeder beziehung / 3464 das gegenstueck zu der mythenschaffenden kraft der wahren / 3465 musik: durch sie wird die erscheinung noch aermer, als sie ist, waehrend / 3466 durch die dionysische musik die einzelne erscheinung sich / 3467 zum weltbilde bereichert und erweitert. es war ein maechtiger / 3468 sieg des undionysischen geistes, als er, in der entfaltung des / 3469 neveren dithyrambus, die musik sich selbst entfremdet und sie / 3470 zur sclauin der erscheinung herabgedrueckt hatte. euripides, der / 3471 in einem hoehern sinne eine durchaus unmusikalische natur genannt / 3472 werden muss, ist aus ebendiesem grunde leidenschaftlicher / 3473 anhaenger der neveren dithyrambischen musik und verwendet / 3474 mit der freigebigkeit eines raeubers alle ihre effectstuecke und / 3475 manieren. / 3476 nach einer anderen seite sehen wir die kraft dieses undionysischen, / 3477 gegen den mythus gerichteten geistes in thaetigkeit wenn / 3478 wir unsere blicke auf das ueberhandnehmen der charakterdarstellung / 3479 und des psychologischen raffinements in der / 3480 tragoedie von sophokles ab richten. der charakter soll sich nicht mehr zum ewige / 3481 erweitern lassen, sondern im gegenteil / 3482 so durch kuenstliche nebenzuege und schattirungen durch / 3483 feinste bestimmtheit aller linien indiuiduell wirken, dass der / 3484 zuschaver ueberhaupt nicht mehr den mythus, sondern die maechtige / 3485 naturwahrheit und die imitationskraft des kuenstlers empfindet. / 3486 auch hier gewahren wir den sieg der erscheinung ueber das / 3487 allgemeine und die lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen / 3488 praeparat, wir athmen bereits die luft einer theoretischen / 3489 welt, welcher die wissenschaftliche erkenntniss hoeher gilt als die / 3490 kuenstlerische widerspiegelung einer weltregel. die bewegung / 3491 auf der linie des charakteristischen geht schnell weiter: waehrend / 3492 noch sophokles ganze charaktere malt und zu ihrer raffinirten / 3493 entfaltung den mythus ins joch spannt, malt euripides bereits / 3494 nur noch grosse einzelne charakterzuege, die sich in heftigen / 3495 leidenschaften zu aeussern wissen; in der nevern attischen komoedie / 3496 $V00 C0110 L 1 3497 giebt es nur noch masken mit einem ausdruck, leichtsinnige / 3498 alte, geprellte kuppler, verschmitzte sclauen in unermuedlicher / 3499 wiederholung. wohin ist jetzt der mythenbildende geist der / 3500 musik. was jetzt noch von musik uebrig ist, das ist entweder aufregungs / 3501 oder erinnerungsmusik, das heisst entweder ein stimulanzmittel / 3502 fuer stumpfe und verbrauchte neruen, oder tonmalerei. fuer / 3503 die erstere kommt es auf den untergelegten text kaum noch an: / 3504 schon bei euripides geht es, wenn seine helden oder choere erst zu / 3505 singen anfangen, recht luederlich zu; wohin mag es bei seinen / 3506 frechen nachfolgern gekommen sein. / 3507 am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische / 3508 geist in den schluessen der neveren dramen. in der / 3509 alten tragoedie war der metaphysische trost am ende zu spveren / 3510 gewesen, ohne den die lust an der tragoedie ueberhaupt nicht zu / 3511 erklaeren ist; am reinsten toent uielleicht im oedipus auf kolonos / 3512 der versoehnende klang aus einer anderen welt. jetzt, als der / 3513 genius der musik aus der tragoedie entflohen war, ist, im strengen / 3514 sinne, die tragoedie todt denn woher sollte man jetzt jenen / 3515 metaphysischen trost schoepfen koennen. man suchte daher nach / 3516 einer irdischen loesung der tragischen dissonanz; der held, nachdem / 3517 er durch das schicksal hinreichend gemartet war, erntete in / 3518 einer stattlichen heirat, in goettlichen ehrenbezeigungen einen / 3519 wohlverdienten lohn. der held war zum gladiator geworden, / 3520 dem man, nachdem er tuechtig geschunden und mit wunden ueberdeckt / 3521 war, gelegentlich die freiheit schenkte. der deus ex machina / 3522 ist an stelle des metaphysischen trostes getreten. ich will nicht / 3523 sagen, dass die tragische weltbetrachtung ueberall und voellig durch / 3524 den andraengenden geist des undionysischen zerstoert wurde: wir / 3525 wissen nur, dass sie sich aus der kunst gleichsam in die unterwelt, / 3526 in einer entartung zum geheimcult fluechten musste. aber auf / 3527 dem weitesten gebiete der oberflaeche des hellenischen wesens / 3528 wuetete der verzehrende hauch jenes geistes, welcher sich in / 3529 jener form der griechischen heiterkeit kundgiebt von der bereits / 3530 frueher, als von einer greisenhaft unproductiuen daseinslust, / 3531 $V00 C0111 L 1 3532 die rede war; diese heiterkeit ist ein gegenstueck zu der herrlichen / 3533 naiuetaet der aelteren griechen, wie sie nach der gegebenen / 3534 charakteristik zu fassen ist als die aus einem duesteren abgrunde / 3535 hervorwachsende bluethe der appolinischen cultur als der / 3536 sieg, den der hellenische wille durch seine schoenheitsspiegelun / 3537 ueber das leiden und die weisheit des leidens davontraegt. die / 3538 edelste form jener anderen form der griechischen heiterkeit, / 3539 der alexandrinischen, ist die heiterkeit des theoretischen / 3540 menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen merkmale, / 3541 die ich soeben aus dem geiste des undionysischen ableitete dass / 3542 sie die dionysische weisheit und kunst bekaempft; dass sie den / 3543 mythus aufzuloesen trachtet; dass sie an stelle eines metaphysischen / 3544 trostes eine irdische consonanz ja einen eigenen deus ex / 3545 machina setzt, naemlich den gott der maschinen und schmelztiegel, / 3546 das heisst die im dienste des hoeheren egoismus erkannten und / 3547 verwendeten kraefte der naturgeister; dass sie an eine correctur / 3548 der welt durch das wissen, an ein durch die wissenschaft geleitetes / 3549 leben glaubt und auch wirklich imstande ist, den einzelnen / 3550 menschen in einen allerengsten kreis von loesbaren aufgaben zu / 3551 bannen, innerhalb dessen er heiter zum leben sagt: ich will dich / 3552 du bist werth erkannt zu werden. / 3553 es ist ein ewiges phaenomen: immer findet der gierige wille / 3554 ein mittel, durch eine ueber die dinge gebreitete illusion seine geschoepfe / 3555 im leben festzuhalten und zum weiterleben zu zwingen. / 3556 diesen fesselt die sokratische lust des erkennens und der wahn, / 3557 durch dasselbe die ewige wunde des daseins heilen zu koennen, / 3558 jenen umstrickt der vor seinen augen wehende verfuehrerische / 3559 schoenheitsschleier der kunst, jenen wiederum der metaphysische / 3560 trost, dass unter dem wirbel der erscheinungen das ewige leben / 3561 unzerstoerbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch / 3562 kraeftigeren illusionen, die der wille in jedem augenblick bereithaelt, / 3563 $V00 C0112 L 1 3564 zu schweigen. jene drei illusionsstufen sind ueberhaupt nur / 3565 fuer die edler ausgestatteten naturen, von denen die last und / 3566 schwere des daseins ueberhaupt mit tieferer unlust empfunden / 3567 wird und die durch ausgesuchte reizmittel ueber diese unlust hinwegzutaeuschen / 3568 sind. aus diesen reizmitteln besteht alles, was wir / 3569 cultur nennen: je nach der proportion der mischungen haben wir / 3570 eine vorzugsweise sokratische oder kuenstlerische / 3571 oder tragische cultur oder wenn man historische exemplificationen / 3572 erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische / 3573 oder eine hellenische oder eine buddhaistische cultur. / 3574 unsere ganze moderne welt ist in dem netz der alexandrinischen / 3575 cultur befangen und kennt als ideal den mit hoechsten erkenntniskraeften / 3576 ausgeruesteten, im dienste der wissenschaft arbeitenden / 3577 theoretischen menschen, dessen urbild und / 3578 stammuater sokrates ist. alle unsere erziehungsmittel haben urspruenglich / 3579 dieses ideal im auge: jede andere existenz hat sich / 3580 muehsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte / 3581 existenz. in einem fast erschreckenden sinne ist hier eine / 3582 lange zeit der gebildete allein in der form des gelehrten gefunden / 3583 worden; selbst unsere dichterischen kuenste haben sich aus / 3584 gelehrten imitationen entwickeln muessen, und in dem haupteffect / 3585 des reimes erkennen wir noch die entstehung unserer poetischen / 3586 form aus kuenstlichen experimenten mit einer nicht heimischen, / 3587 recht eigentlich gelehrten sprache. wie unverstaendlich / 3588 muesste einem aechten griechen der an sich verstaendliche moderne / 3589 culturmensch faust erscheinen, der durch alle facultaeten unbefriedigt / 3590 stvermende, aus wissenstrieb der magie und dem teufel / 3591 ergebene faust, den wir nur zur vergleichung neben sokrates zu / 3592 stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne mensch die / 3593 grenzen jener sokratischen erkenntnislust zu ahnen beginnt und / 3594 aus dem weiten wuesten wissensmeere nach einer kueste verlangt. / 3595 wenn goethe einmal zu eckermann, mit bezug auf napoleon / 3596 aeussert: ja mein guter, es giebt auch eine productiuitaet der / 3597 thaten so hat er in anmuthig naiver weise daran erinnert, / 3598 $V00 C0113 L 1 3599 dass der nichttheoretische mensch fuer den modernen menschen / 3600 etwas unglaubwuerdiges und staunenerregendes ist, so dass es / 3601 wieder der weisheit eines goethe bedarf, um auch eine so befremdende / 3602 existenzenform begreiflich, ja verzeihlich zu finden. / 3603 und nun soll man sich nicht verbergen, was im schoosse dieser / 3604 sokratischen cultur verborgen liegt. der unumschraenkt sich waehnende / 3605 optimismus. nun soll man nicht erschrecken, wenn die / 3606 fruechte dieses optimismus reifen, wenn die von einer derartigen / 3607 cultur bis in die niedrigsten schichten hinein durchsaeverte gesellschaft / 3608 allmaehlich unter ueppigen wallungen und begehrungen / 3609 erzittert, wenn der glaube an das erdenglueck aller, wenn der / 3610 glaube an die moeglichkeit einer solchen allgemeinen wissenscultur / 3611 allmaehlich in die drohende forderung eines solchen alexandrinischen / 3612 erdenglueckes, in die beschwoerung eines euripideischen / 3613 deus ex machina umschlaegt. man soll es merken: die alexandrinische / 3614 cultur braucht einen sclauenstand um auf die daver / 3615 existieren zu koennen; aber sie leugnet in ihrer optimistischen / 3616 betrachtung des daseins die nothwendigkeit eines solchen standes / 3617 und geht deshalb, wenn der effect ihrer schoenen verfuehrungs / 3618 und beruhigungsworte von der wuerde des menschen und der / 3619 wuerde der arbeit verbraucht ist, allmaehlich einer grauenvollen / 3620 vernichtung entgegen. es giebt nichts furchtbareres als einen barbarischen / 3621 sclauenstand der seine existenz als ein unrecht zu betrachten / 3622 gelernt hat und sich anschickt, nicht nur fuer sich, sondern / 3623 fuer alle generationen rache zu nehmen. wer wagt es, solchen / 3624 drohenden stvermen entgegen, sicheren muthes an unsere blassen / 3625 und ermuedeten religionen zu appelliren die selbst in ihren / 3626 fundamenten zu gelehrtenreligionen entartet sind: so dass der / 3627 mythus, die nothwendige voraussetzung jeder religion, bereits / 3628 ueberall gelaehmt ist und selbst auf diesem bereich jener optimistische / 3629 geist zur herrschaft gekommen ist, den wir als den vernichtungskeim / 3630 unserer gesellschaft eben bezeichnet haben. / 3631 waehrend das im schoosse der theoretischen cultur schlummernde / 3632 unheil allmaehlich den modernen menschen zu aengstigen / 3633 $V00 C0114 L 1 3634 beginnt und er, unruhig, aus dem schatze seiner erfahrungen / 3635 nach mitteln greift, um die gefahr abzuwenden, ohne selbst an / 3636 diese mittel recht zu glauben; waehrend er also seine eigenen / 3637 consequenzen zu ahnen beginnt: haben grosse allgemein angelegte / 3638 naturen, mit einer unglaublichen besonnenheit, das ruestzeug / 3639 der wissenschaft selbst zu benuetzen gewusst, um die grenzen / 3640 und die bedingtheit des erkennens ueberhaupt darzulegen und / 3641 damit den anspruch der wissenschaft auf / 3642 universale geltung und universale zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem na / 3643 zum ersten male jene wahnvorstellung als solche erkannt / 3644 wurde, welche an der hand der causalitaet sich anmasst, das / 3645 innerste wesen der dinge ergruenden zu koennen. der ungeheuren / 3646 tapferkeit und weisheit kants und schopenhavers / 3647 ist der schwerste sieg gelungen, der sieg ueber den im wesen der / 3648 logik verborgen liegenden optimismus, der wiederum der untergrund / 3649 unserer cultur ist. wenn dieser an die erkennbarkeit und / 3650 ergruendlichkeit aller weltraethsel gestuetzt auf die ihm unbedenklichen / 3651 aeternae veritates, geglaubt und raum, zeit und / 3652 causalitaet als gaenzlich unbedingte gesetze von allgemeinster / 3653 gueltigkeit behandelt hatte, offenbarte kant, wie diese eigentlich / 3654 nur dazu dienten, die blosse erscheinung, das werk der maja, zur / 3655 einzigen und hoechsten realitaet zu erheben und sie an die stelle / 3656 des innersten und wahren wesens der dinge zu setzen und die / 3657 wirkliche erkenntniss von diesem dadurch unmoeglich zu machen, / 3658 das heisst, nach einem schopenhaverschen ausspruche, den traeumer / 3659 noch fester einzuschlaefern. mit dieser / 3660 erkenntniss ist eine cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische / 3661 zu bezeichnen wage: deren wichtigstes merkmal ist, dass an die / 3662 stelle der wissenschaft als hoechstes ziel die weisheit gerueckt wird, / 3663 die sich, ungetaeuscht durch die verfuehrerischen ablenkungen der / 3664 wissenschaften, mit unbewegtem blicke dem gesammtbilde der / 3665 welt zuwendet und in diesem das ewige leiden mit sympatischer / 3666 liebesempfindung als das eigne leiden zu ergreifen sucht. / 3667 denken wir uns eine heranwachsende generation mit dieser unerschrockenheit / 3668 $V00 C0115 L 1 3669 des blicks, mit diesem heroischen zug ins ungeheure, / 3670 denken wir uns den kuehnen schritt dieser drachentoedter / 3671 die stolze verwegenheit, mit der sie allen den schwaechlichkeitsdoc / 3672 jenen optimismus den ruecken kehren, um im ganzen / 3673 und vollen resolut zu leben: sollte es nicht noethig sein, dass der / 3674 tragische mensch dieser cultur bei seiner selsterziehung zum / 3675 ernst und zum schrecken, eine neue kunst, die kunst des metaphysischen / 3676 trostes, die tragoedie als die ihm zugehoerige helena / 3677 begehren und mit faust ausrufen muss: / 3678 und sollt' ich nicht, sehnsuechtigster gewalt, / 3679 ins leben ziehn die einzigste gestalt. / 3680 nachdem aber die sokratische cultur von zwei seiten aus erschuettert / 3681 ist und das scepter ihrer unfehlbarkeit nur noch mit / 3682 zitternden haenden zu halten vermag, einmal aus furcht vor / 3683 ihren eigenen consequenzen die sie nachgerade zu ahnen beginnt, / 3684 sodann weil sie selbst von der ewigen gueltigkeit ihres fundamentes / 3685 nicht mehr mit dem frueheren naiuen zutrauen ueberzeugt / 3686 ist: so ist es ein trauriges schauspiel, wie sich der tanz ihres denkens / 3687 sehnsuechtig immer auf neue gestalten stverzt, um sie zu umarmen, / 3688 und sie dann ploetzlich wieder, wie mephistopheles die / 3689 verfuehrerischen lamien (blutsaugende daemonen), schaudernd fahrenlaesst. das is / 3690 merkmal jenes bruches, von dem jedermann als von dem urleiden / 3691 der modernen cultur zu reden pflegt, dass der theoretische / 3692 mensch vor seinen consequenzen erschrickt und unbefriedigt es / 3693 nicht mehr wagt, sich dem furchtbaren eisstrome des daseins / 3694 anzuvertrauen: aengstlich laeuft er am ufer auf und ab. er. will nichts / 3695 mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natverlichen grausamkeit / 3696 der dinge. so weit hat ihn das optimistische betrachten verzaertelt. / 3697 dazu fuehlt er, wie eine cultur die auf dem prinzip der / 3698 wissenschaft aufgebaut ist, zugrunde gehen muss, wenn sie anfaengt, / 3699 unlogisch zu werden, das heisst, vor ihren consequenzen / 3700 zurueckzufliehen. unsere kunst offenbart diese allgemeine noth / 3701 umsonst, dass man sich an alle grossen productiuen perioden und / 3702 $V00 C0116 L 1 3703 naturen imitatorisch anlehnt, umsonst, dass man die ganze weltliteratur / 3704 zum troste des modernen menschen um ihn versammelt / 3705 und ihn mitten unter die kunststile und kuenstler aller zeiten / 3706 hinstellt, damit er ihnen, wie adam den thieren einen / 3707 namen gebe: er bleibt doch der ewig hungernde, der kritiker / 3708 ohne lust und kraft, der alexandrinische mensch, der im grunde / 3709 bibliothekar und corrector ist und an buecherstaub und druckfehlern / 3710 elend erblindet. / 3711 man kann den innersten gehalt dieser sokratischen cultur / 3712 nicht schaerfer bezeichnen, als wenn man sie die cultur der / 3713 oper nennt: denn auf diesem gebiete hat sich diese cultur mit / 3714 eigener naiuetaet ueber ihr wollen und erkennen ausgesprochen, / 3715 zu unserer verwunderung, wenn wir die genesis der oper und / 3716 die thatsachen der opernentwicklung mit den ewigen wahrheiten / 3717 des apollinischen und des dionysischen zusammenhalten. / 3718 ich erinnere zunaechst an die entstehung des stilo rappresentativo / 3719 und des recitatius. ist es glaublich, dass diese gaenzlich veraeusserlichte, / 3720 der andacht unfaehige musik der oper von einer zeit mit / 3721 schwaermerischer gunst, gleichsam als die wiedergeburt aller / 3722 wahren musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der / 3723 sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige musik palestrinas / 3724 erhoben hatte. und wer moechte andrerseits nur die zerstreuungssuechtig / 3725 ueppigkeit jener florentiner kreise und die / 3726 eitelkeit ihrer dramatischen saenger fuer die so ungestuem sich verbreitende / 3727 lust an der oper verantwortlich machen. dass in derselben / 3728 zeit, ja in demselben volke neben dem gewoelbebau palestrinischer / 3729 harmonie, an dem das gesammte christliche mittelalter / 3730 gebaut hatte, jene leidenschaft fuer eine halbmusikalische / 3731 sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im wesen des / 3732 recitatius mitwirkenden ausserkuenstlerische tendenz / 3733 zu erklaeren. / 3734 $V00 C0117 L 1 3735 dem zuhoerer, der das wort unter dem gesange deutlich vernehmen / 3736 will, entspricht der saenger dadurch, dass er mehr spricht / 3737 als singt und dass er den pathetischen wortausdruck in diesem / 3738 halbgesange verschaerft: durch diese verschaerfung des pathos erleichtert / 3739 er das verstaendniss des wortes und ueberwindet jene / 3740 ueberiggebliebene haelfte der musik. die eigentliche gefahr, die / 3741 ihm jetzt droht, ist die, dass er der musik einmal zur unzeit das / 3742 uebergewicht ertheilt wodurch sofort pathos der rede und deutlichkeit / 3743 des wortes zugrunde gehen muesste waehrend er andrerseits / 3744 immer den trieb zu musikalischer entladung und zu uirtvosenhafter / 3745 praesentation seiner stimme fuehlt. hier kommt ihm / 3746 der dichter zu huelfe der ihm genug gelegenheiten zu lyrischen / 3747 interjectionen wort und sentenzenwiederholun und so weiter / 3748 zu bieten weiss an welchen stellen der saenger jetzt in dem rein / 3749 musikalischen elemente, ohne ruecksicht auf das wort, ausruhen / 3750 kann. dieser wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halbgesungener / 3751 rede und ganzgesungener interjection der im wesen / 3752 des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde bemuehen, / 3753 bald auf den begriff und die vorstellung, bald auf den musikalischen / 3754 grund des zuhoerers zu wirken, ist etwas so gaenzlich unnatverliches / 3755 und den kunsttrieben des dionysischen und des apollinischen / 3756 in gleicher weise so innerlich widersprechendes, dass / 3757 man auf einen ursprung des recitatius zu schliessen hat, der / 3758 ausserhalb aller kuenstlerischen instincte liegt. das recitatiu ist / 3759 nach dieser schilderung zu definiren als die vermischung des / 3760 epischen und des lyrischen vortrags, und zwar keinesfalls die / 3761 innerlich bestaendige mischung, die bei so gaenzlich disparaten dingen / 3762 nicht erreicht werden konnte, sondern die aeusserlichste mosaikartige / 3763 conglutination wie etwas derartiges im bereich der natur / 3764 und der erfahrung gaenzlich vorbildlos ist. dies war aber / 3765 nicht die meinung jener erfinder des recitatius / 3766 uielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr zeitalter, / 3767 dass durch jenen stilo rappresentativo das geheimniss der antiken / 3768 musik geloest sei, aus dem sich allein die ungeheure wirkung eines / 3769 $V00 C0118 L 1 3770 orpheus, amphion, ja auch der griechischen tragoedie erklaeren / 3771 lasse. der neue stil galt als die wiedererweckung der wirkungsvollsten / 3772 musik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen / 3773 und ganz volksthuemlichen auffassung der homerischen / 3774 welt als der urwelt, dem traume ueberlassen, jetzt wieder / 3775 in die paradiesischen anfaenge der menschheit hinabgestiegen zu / 3776 sein, in der nothwendig auch die musik jene unuebertroffne reinheit, / 3777 macht und unschuld gehabt haben muesste, von der die dichter / 3778 in ihren schaeferspielen so ruehrend zu erzaehlen wussten. hier / 3779 sehen wir in das innerlichste werden dieser recht eigentlich modernen / 3780 kunstgattung, der oper: ein maechtiges bedverfniss erzwingt / 3781 sich hier eine kunst, aber ein bedverfniss unaesthetischer / 3782 art: die sehnsucht zum idyll, der glaube an eine urvorzeitliche / 3783 existenz des kuenstlerischen und guten menschen. das recitatiu / 3784 galt als die wiederentdeckte sprache jenes urmenschen; die oper / 3785 als das wiederaufgefundene land jenes idyllisch oder heroisch / 3786 guten wesens, das zugleich in allen seinen handlungen einem / 3787 natverlichen kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, / 3788 wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten gefuehlserregung, / 3789 sofort mit voller stimme zu singen. es ist fuer uns jetzt gleichgueltig, / 3790 dass mit diesem neugeschaffnen bilde des paradiesischen / 3791 kuenstlers die damaligen humanisten gegen die alte kirchliche / 3792 vorstellung vom an sich verderbten und verlornen menschen / 3793 ankaempften: so dass die oper als das oppositionsdogma vom / 3794 guten menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein trostmittel / 3795 gegen jenen pessimismus gefunden war, zu dem gerade / 3796 die ernstgesinnten jener zeit bei der grauenhaften unsicherheit / 3797 aller zustaende am staerksten gereizt waren. genug, wenn wir / 3798 erkannt haben, wie der eigentliche zauber und damit die genesis / 3799 dieser neuen kunstform in der befriedigung eines gaenzlich unaesthetischen / 3800 bedverfnisses liegt, in der optimistischen verherrlichung / 3801 des menschen an sich, in der auffassung des urmenschen / 3802 als des von natur guten und kuenstlerischen menschen: welches / 3803 prinzip der oper sich allmaehlich in eine drohende und entsetzliche / 3804 $V00 C0119 L 1 3805 forderung umgewandelt hat, die wir, im angesicht der / 3806 sozialistischen bewegungen der gegenwart, nicht mehr ueberhoeren / 3807 koennen. der gute urmensch will seine rechte: welche / 3808 paradiesischen aussichten. / 3809 ich stelle daneben noch eine ebenso deutliche bestaetigung / 3810 meiner ansicht, dass die oper auf den gleichen principien mit / 3811 unserer alexandrinischen cultur aufgebaut ist. die oper ist die / 3812 geburt des theoretischen menschen, des kritischen laien, nicht / 3813 des kuenstlers: eine der befremdlichsten thatsachen in der geschichte / 3814 aller kuenste. es war die forderung recht eigentlich / 3815 unmusikalischer zuhoerer, dass man vor allem das wort verstehen / 3816 muesse: so dass eine wiedergeburt der tonkunst nur zu / 3817 erwarten sei, wenn man irgendeine gesangesweise entdecken / 3818 werden, bei welcher das textwort ueber den contrapunkt wie der / 3819 herr ueber den diener herrsche. denn die worte seien um so / 3820 uiel edler als das begleitende harmonische system, um wieuiel / 3821 die seele edler als der koerper sei. mit der laienhaft unmusikalischen / 3822 roheit dieser ansichten wurde in den anfaengen der / 3823 oper die verbindung von musik, bild und wort behandelt; im / 3824 sinne dieser aesthetik kam es auch in den vornehmen laienkreisen / 3825 von florenz, durch hier patronisirte dichter und saenger, / 3826 zu den ersten experimenten. der kunstohnmaechtige mensch erzeugt / 3827 sich eine art von kunst, gerade dadurch, dass er der unkuenstlerische / 3828 mensch an sich ist. weil er die dionysische tiefe / 3829 der musik nicht ahnt, verwandelt er sich den musikgenuss zur / 3830 verstandesmaessigen wort und tonrhetorik der leidenschaft im / 3831 stilo rappresentativo und zur wollust der gesangeskuenste; weil / 3832 er keine uision zu schauen vermag, zwingt er den maschinisten / 3833 und decorationskuenstler in seinen dienst; weil er das wahre / 3834 wesen des kuenstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich / 3835 den kuenstlerischen urmenschen nach seinem geschmack hin, / 3836 das heisst den menschen, der in der leidenschaft singt und verse / 3837 spricht. er traeumt sich in eine zeit hinein, in der die leidenschaft / 3838 ausreicht, um gesaenge und dichtungen zu erzeugen: als ob je / 3839 $V00 C0120 L 1 3840 der affect imstande gewesen sei, etwas kuenstlerisches zu / 3841 schaffen. die voraussetzung der oper ist ein falscher glaube / 3842 ueber den kuenstlerischen prozess, und zwar jener idyllische glaube, / 3843 dass eigentlich jeder empfindende mensch kuenstler sei. im sinne / 3844 dieses glaubens ist die oper der ausdruck des laienthums in / 3845 der kunst, das seine gesetze mit dem heitern optimismus des / 3846 theoretischen menschen dictirt. / 3847 sollten wir wuenschen, die beiden eben geschilderten, bei der / 3848 entstehung der oper wirksamen vorstellungen unter einen begriff / 3849 zu vereinigen, so wuerde uns nur uebrigbleiben, von einer / 3850 idyllischen tendenz der oper zu sprechen: wobei / 3851 wir uns allein der ausdrucksweise und erklaerung schillers zu / 3852 bedienen haetten. entweder, sagt dieser, ist die natur und das / 3853 ideal ein gegenstand der traver, wenn jene als verloren, dieses / 3854 als unerreicht dargestellt wird. oder beide sind ein gegenstand / 3855 der freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. das erste / 3856 giebt die elegie in engerer, das andere die idylle in weitester / 3857 bedeutung. hier ist nun sofort auf das gemeinsame merkmal / 3858 jener beiden vorstellungen in der operngenesis aufmerksam zu / 3859 machen, dass in ihnen das ideal nicht als unerreicht, die natur / 3860 nicht als verloren empfunden wird. es gab nach dieser empfindung / 3861 eine urzeit des menschen, in der er am herzen der natur / 3862 lag und bei dieser natverlichkeit zugleich das ideal der menschheit, / 3863 in einer paradiesischen guete und kuenstlerschaft, erreicht / 3864 hatte: von welchem vollkomnen urmenschen wir alle abstammen / 3865 sollten, ja dessen getreues ebenbild wir noch waeren: / 3866 nur muessten wir einiges von uns werfen, um uns selbst wieder / 3867 als diesen urmenschen zu erkennen, vermoege einer freiwilligen / 3868 entaeusserung von ueberfluessiger gelehrsamkeit, von ueberreicher / 3869 cultur. der bildungsmensch der renaissance liess sich durch seine / 3870 opernhafte imitation der griechischen tragoedie zu einem solchen / 3871 zusammenklang von natur und ideal, zu einer idyllischen wirklichkeit / 3872 zurueckgeleiten, er benutzte diese tragoedie, wie dante / 3873 den uirgil benutzte, um bis an die pforten des paradieses gefuehrt / 3874 $V00 C0121 L 1 3875 zu werden: waehrend er von hier aus selbstaendig noch weiter / 3876 schritt und von einer imitation der hoechsten griechischen kunstform / 3877 zu einer wiederbringung aller dinge zu einer nachbildung / 3878 der urspruenglichen kunstwelt des menschen ueberging. / 3879 welche zuversichtliche gutmuethigkeit dieser verwegenen bestrebungen / 3880 mitten im schoosse der theoretischen cultur einzig / 3881 nur aus dem troestenden glauben zu erklaeren, dass der mensch / 3882 an sich der ewig tugendhafte opernheld, der ewig floetende / 3883 oder singende schaefer sei, der sich endlich immer als solchen / 3884 wiederfinden muesse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklich / 3885 auf einige zeit verloren habe, einzig die frucht jenes optimismus, / 3886 der aus der tiefe der sokratischen weltbetrachtung hier / 3887 wie eine suesslich verfuehrerische duftsaeule emporsteigt. / 3888 es liegt also auf den zuegen der oper keinesfalls jener elegische / 3889 schmerz eines ewigen verlustes, uielmehr die heiterkeit / 3890 des ewigen wiederfindens, die bequeme lust an einer idyllischen / 3891 wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem / 3892 augenblicke vorstellen kann: wobei man uielleicht einmal ahnt, / 3893 dass diese vermeinte wirklichkeit nichts als ein phantastisch / 3894 laeppisches getaendel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren / 3895 ernst der wahren natur zu messen und mit den eigentlichen / 3896 urscenen der menschheitsanfaenge zu vergleichen vermoechte, mit / 3897 ekel zurufen muesste: weg mit dem phantom. trotzdem wuerde / 3898 man sich taeuschen, wenn man glaubte, ein solches taendelndes / 3899 wesen, wie die oper ist, einfach durch einen kraeftigen anruf / 3900 wie ein gespenst verscheuchen zu koennen. wer die oper vernichten / 3901 will, muss den kampf gegen jene alexandrinische heiterkeit / 3902 aufnehmen, die sich in ihr so naiu ueber ihre lieblingsvorstellung / 3903 ausspricht, ja deren eigentliche kunstform sie ist. / 3904 was ist aber fuer die kunst selbst von dem wirken einer kunstform / 3905 zu erwarten, deren urspruenge ueberhaupt nicht im aesthetischen / 3906 bereiche liegen, die sich uielmehr aus einer halb moralischen / 3907 sphaere auf das kuenstlerische gebiet hinuebergestohlen hat / 3908 und ueber diese hybride entstehung nur hier und da einmal hinwegzutaeuschen / 3909 $V00 C0122 L 1 3910 vermochte. von welchen saeften naehrt sich dieses / 3911 parasitische opernwesen, wenn nicht von denen der wahren / 3912 kunst. wird nicht zu muthmaassen sein, dass unter seinen idyllischen / 3913 verfuehrungen, unter seinen alexandrinischen schmeichelkuensten / 3914 die hoechste und wahrhaftig ernst zu nennende aufgabe / 3915 der kunst das auge vom blick ins grauen der nacht zu / 3916 erloesen und das subjekt durch den heilenden balsam des scheins / 3917 aus dem krampfe der willensregungen zu retten zu einer / 3918 leeren und zerstreuenden ergetzlichkeitstende entarten werde. / 3919 was wird aus den ewigen wahrheiten des dionysischen und des / 3920 apollinischen. bei einer solchen stilvermischung, wie ich sie am / 3921 wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe wo die musik / 3922 als diener, das textwort als herr betrachtet, die musik mit dem / 3923 koerper, das textwort mit der seele verglichen wird wo das / 3924 hoechste ziel bestenfalls auf eine umschreibende tonmalerei gerichtet / 3925 sein wird, aehnlich wie ehedem im neuen attischen dithyrambus / 3926 wo der musik ihre wahre wuerde, dionysischer weltspiegel / 3927 zu sein, voellig entfremdet ist, so dass ihr nur uebrigbleibt, / 3928 als sclauin der erscheinung, das formenwesen der erscheinung / 3929 nachzuahmen und in dem spiele der linien und proportionen / 3930 eine aeusserliche ergetzung zu erregen. einer strengen betrachtung / 3931 faellt dieser verhaengnisvolle einfluss der oper auf die musik / 3932 geradezu mit der gesammten modernen musikentwicklung zusammen; / 3933 dem in der genesis der oper und im wesen der durch / 3934 sie repraesentirten cultur lavernden optimismus ist es in beaengstigender / 3935 schnelligkeit gelungen, die musik ihrer dionysischen / 3936 weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, / 3937 vergnueglichen charakter aufzupraegen: mit welcher veraenderung / 3938 nur etwa die metamorphose des aeschyleischen menschen in den / 3939 alexandrinischen heiterkeitsmenschen verglichen werden dverfte. / 3940 wenn wir aber mit recht in der hiermit angedeuteten exemplification / 3941 das entschwinden des dionysischen geistes mit einer / 3942 hoechst auffaelligen, aber bisher unerklaerten umwandlung und / 3943 degeneration des griechischen menschen in zusammenhang gebracht / 3944 $V00 C0123 L 1 3945 haben welche hoffnungen muessen in uns aufleben, / 3946 wenn uns die allersichersten auspizien den umgekehrten / 3947 prozess, dass allmaehliche erwachen des dionysischen / 3948 geistes in unserer gegenwaertigen welt, verbvergen. / 3949 es ist nicht moeglich, dass die goettliche kraft des herakles / 3950 ewig im ueppigen frohndienste der omphale erschlafft. aus dem / 3951 dionysischen grunde des deutschen geistes ist eine macht emporgestiegen, / 3952 die mit den urbedingungen der sokratischen cultur / 3953 nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklaeren noch zu / 3954 entschuldigen ist, uielmehr von dieser cultur als das schrecklich / 3955 unerklaerliche, als das uebermachtig feindselige empfunden / 3956 wird, die deutsche musik, wie wir sie vornehmlich in / 3957 ihrem maechtigen sonnenlaufe von bach zu beethouen, von / 3958 beethouen zu wagner zu verstehen haben. was vermag die / 3959 erkenntnisluesterne sokratik unserer tage guenstigstenfalls mit / 3960 diesem aus unerschoepflichen tiefen emporsteigenden daemon zu / 3961 beginnen. weder von dem zacken und arabeskenwerk der / 3962 opernmelodie aus noch mit huelfe des arithmetischen rechenbretts / 3963 der fuge und der contrapunktischen dialektik will sich / 3964 die formel finden lassen, in deren dreimal gewaltigem licht man / 3965 jenen daemon sich unterwuerfig zu machen und zum reden zu / 3966 zwingen vermoechte. welches schauspiel, wenn jetzt unsere / 3967 aesthetiker, mit dem fangnetz einer ihnen eignen schoenheit, / 3968 nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem leben sich tummelnden / 3969 musikgenius schlagen und haschen, unter bewegungen, die nach / 3970 der ewigen schoenheit ebensowenig als nach dem erhabenen beurtheilt / 3971 werden wollen. man mag sich nur diese musikgoenner / 3972 einmal leibhaft und in der naehe besehen, wenn sie so unermuedlich / 3973 schoenheit. schoenheit rufen, ob sie sich dabei wie die im schoosse / 3974 des schoenen gebildeten und verwoehnten lieblingskinder der / 3975 natur ausnehmen oder ob sie nicht uielmehr fuer die eigne roheit / 3976 eine luegnerisch verhuellende form, fuer die eigne empfindungsarme / 3977 nuechternheit einen aesthetischen vorwand suchen: wobei / 3978 ich zum beispiel an otto jahn denke. vor der deutschen musik aber mag / 3979 $V00 C0124 L 1 3980 sich der luegner und heuchler in acht nehmen: denn gerade sie / 3981 ist, inmitten aller unserer cultur der einzig reine, lautere und / 3982 laeuternde fevergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der / 3983 lehre des grossen heraklit von ephesus, sich alle dinge in doppelter / 3984 kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt cultur bildung, / 3985 ciuilisation nennen, wird einmal vor dem untrueglichen richter / 3986 dionysus erscheinen muessen. / 3987 erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen quellen / 3988 stroemenden geiste der deutschen philosophie durch / 3989 kant und schopenhaver es ermoeglicht war, die zufriedne daseinslust / 3990 der wissenschaftlichen sokratik, durch den nachweis / 3991 ihrer grenzen, zu vernichten, wie durch diesen nachweis eine / 3992 unendlich tiefere und ernstere betrachtung der ethischen fragen / 3993 und der kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in / 3994 begriffe gefasste dionysische weisheit bezeichnen / 3995 koennen: wohin weist uns das mysterium dieser einheit zwischen / 3996 der deutschen musik und der deutschen philosophie, wenn nicht / 3997 auf eine neue daseinsform, ueber deren inhalt wir uns nur aus / 3998 hellenischen analogien ahnend unterrichten koennen. denn diesen / 3999 unausmessbaren werth behaelt fuer uns, die wir an der grenzscheide / 4 zweier verschiedener daseinsformen stehen, das hellenische / 4001 vorbild, dass in ihm auch alle jene uebergaenge und kaempfe / 4002 zu einer classisch belehrenden form ausgepraegt sind: nur dass / 4003 wir gleichsam in umgekehrter ordnung die grossen hauptepochen / 4004 des hellenischen wesens analogisch durcherleben und zum / 4005 beispiel jetzt aus dem alexandrinischen zeitalter rueckwaerts zur / 4006 periode der tragoedie zu schreiten scheinen. dabei lebt in uns die / 4007 empfindung, als ob die geburt eines tragischen zeitalters fuer den / 4008 deutschen geist nur eine rueckkehr zu sich selbst, ein seliges / 4009 sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem fuer eine lange zeit / 4010 ungeheure, von aussen her eindringende maechte den in huelfloser / 4011 barbarei der form dahinlebenden zu einer knechtschaft unter / 4012 ihrer form gezwungen hatten. jetzt endlich darf er, nach seiner / 4013 heimkehr zum urquell seines wesens, vor allen voelkern kuehn / 4014 $V00 C0125 L 1 4015 und frei, ohne das gaengelband einer romanischen ciuilisation / 4016 einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem volke unentwegt / 4017 zu lernen versteht, von dem ueberhaupt lernen zu koennen / 4018 schon ein hoher ruhm und eine auszeichnende seltenheit ist: / 4019 von den griechen. und wann brauchten wir diese allerhoechsten / 4020 lehrmeister mehr als jetzt, wo wir die wiedergeburt der / 4021 tragoedie erleben und in gefahr sind, weder zu wissen, woher / 4022 sie kommt, noch uns deuten zu koennen, wohin sie will. / 4023 es moechte einmal unter den augen eines unbestochenen / 4024 richters abgewogen werden, in welcher zeit und in welchen / 4025 maennern bisher der deutsche geist, von den griechen zu lernen, / 4026 am kraeftigsten gerungen hat; und wenn wir mit zuversicht annehmen, / 4027 dass dem edelsten bildungskampfe goethes, schillers / 4028 und winckelmanns dieses einzige lob zugesprochen werden / 4029 muesste, so waere jedenfalls hinzuzufuegen, dass seit jener zeit und / 4030 den naechsten einwirkungen jenes kampfes, das streben, auf / 4031 einer gleichen bahn zur bildung und zu den griechen zu kommen, / 4032 in unbegreiflicher weise schwaecher und schwaecher geworden ist. / 4033 sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen geist verzweifeln / 4034 zu muessen, nicht daraus den schluss ziehen dverfen, dass in irgendwelchem / 4035 hauptpunkte es auch jenen kaempfern nicht gelungen / 4036 sein moechte, in den kern des hellenischen wesens einzudringen / 4037 und einen davernden liebesbund zwischen der deutschen und der / 4038 griechischen cultur herzustellen. so dass uielleicht ein unbewusstes / 4039 erkennen jenes mangels auch in den ernsteren naturen / 4040 den verzagten zweifel erregte, ob sie, nach solchen vorgaengen, / 4041 auf diesem bildungswege noch weiter wie jene und ueberhaupt / 4042 zum ziele kommen wuerden. deshalb sehen wir seit jener zeit / 4043 das urtheil ueber den werth der griechen fuer die bildung in der / 4044 bedenklichsten weise entarten; der ausdruck mitleidiger ueberlegenheit / 4045 ist in den verschiedensten feldlagern des geistes und / 4046 $V00 C0126 L 1 4047 des ungeistes zu hoeren; anderwaerts taendelt eine gaenzlich wirkungslose / 4048 schoenrednerei mit der griechischen harmonie, der / 4049 griechischen schoenheit, der griechischen heiterkeit. und / 4050 gerade in den kreisen, deren wuerde es sein koennte, aus dem / 4051 griechischen strombett unermuedet zum heile deutscher bildung / 4052 zu schoepfen, in den kreisen der lehrer an den hoeheren bildungsanstalten, / 4053 hat man am besten gelernt, sich mit den griechen zeitig / 4054 und in bequemer weise abzufinden, nicht selten bis zu einem / 4055 sceptischen preisgeben des hellenischen ideals und bis zu einer / 4056 gaenzlichen verkehrung der wahren absicht aller alterthumsstudien. / 4057 wer ueberhaupt in jenen kreisen sich nicht voellig in dem / 4058 bemuehen, ein zuverlaessiger corrector von alten texten oder ein / 4059 naturhistorischer sprachmikroskopiker zu sein, erschoepft hat, der / 4060 sucht uielleicht auch das griechische alterthum neben anderen / 4061 altertumern, sich historisch anzueignen, aber jedenfalls nach / 4062 der methode und mit den ueberlegenen mienen unserer jetzigen / 4063 gebildeten geschichtsschreibung. wenn demnach die eigentliche / 4064 bildungskraft der hoeheren lehranstalten wohl noch niemals niedriger / 4065 und schwaechlicher gewesen ist wie in der gegenwart, wenn / 4066 der journalist, der papierne sclaue des tages, in jeder ruecksicht / 4067 auf bildung den sieg ueber den hoeheren lehrer davongetragen / 4068 hat und letzterem nur noch die bereits oft erlebte metamorphose / 4069 uebrigbleibt, sich jetzt nun auch in der sprechweise des / 4070 journalisten, mit der leichten eleganz dieser sphaere, als heiterer, / 4071 gebildeter schmetterling zu bewegen in welcher peinlichen / 4072 verwirrung muessen die derartig gebildeten einer solchen gegenwart / 4073 jenes phaenomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten / 4074 grunde des bisher unbegriffnen hellenischen genius analogisch zu / 4075 begreifen waere, das wiedererwachen des dionysischen geistes und / 4076 die wiedergeburt der tragoedie. es giebt keine andere kunstperiode, / 4077 in der sich die sogenannte bildung und die eigentliche / 4078 kunst so befremdet und abgeneigt gegenuebergestanden haetten, als / 4079 wir das in der gegenwart mit augen sehn. wir verstehen es, / 4080 warum eine so schwaechliche bildung die wahre kunst hasst; denn / 4081 $V00 C0127 L 1 4082 sie fuerchtet durch sie ihren untergang. aber sollte nicht eine ganze / 4083 art der cultur naemlich jene sokratisch alexandrinische, sich ausgelebt / 4084 haben, nachdem sie in eine so zierlich schmaechtige spitze, / 4085 wie die gegenwaertige bildung ist, auslaufen konnte. wenn es / 4086 solchen helden, wie schiller und goethe, nicht gelingen durfte, / 4087 jene verzauberte pforte zu erbrechen, die in den hellenischen / 4088 zauberberg fuehrt, wenn es bei ihrem muthigsten ringen nicht / 4089 weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsuechtigen blick, den die / 4090 goethische iphigenie vom barbarischen tauris aus nach der heimat / 4091 ueber das meer hin sendet, was bliebe den epigonen solcher / 4092 helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht ploetzlich, an einer ganz / 4093 anderen, von allen bemuehungen der bisherigen cultur unberuehrten / 4094 seite die pforte von selbst aufthaete unter dem mystischen / 4095 klange der wiedererweckten tragoedienmusik. / 4096 moege uns niemand unsern glauben an eine noch bevorstehende / 4097 wiedergeburt des hellenischen alterthums zu verkuemmern / 4098 suchen; denn in ihm finden wir allein unsre hoffnung fuer / 4099 eine erneverung und laeuterung des deutschen geistes durch den / 4100 feverzauber der musik. was wuessten wir sonst zu nennen, was / 4101 in der veroedung und ermattung der jetzigen cultur irgendwelche / 4102 troestliche erwartung fuer die zukunft erwecken koennte. / 4103 vergebens spaehen wir nach einer einzigen kraeftig geaesteten wurzel, / 4104 nach einem fleck fruchtbaren und gesunden erdbodens: ueberall / 4105 staub, sand, erstarrung, verschmachten. da moechte sich ein / 4106 trostlos vereinsamter kein besseres symbol waehlen koennen als / 4107 den ritter mit tod und teufel, wie ihn uns dverer gezeichnet hat, / 4108 den geharnischten ritter mit dem erzenen, harten blicke, der / 4109 seinen schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen gefaehrten, / 4110 und doch hoffnungslos, allein mit ross und hund zu nehmen / 4111 weiss. ein solcher dvererscher ritter war unser schopenhaver: ihm / 4112 fehlte jede hoffnung, aber er wollte die wahrheit. es giebt nicht / 4113 seinesgleichen. / 4114 aber wie veraendert sich ploetzlich jene eben so duester geschilderte / 4115 wildnis unserer ermuedeten cultur wenn sie der dionysische / 4116 $V00 C0128 L 1 4117 zauber beruehrt. ein sturmwind packt alles abgelebte, / 4118 morsche, zerbrochne, verkuemmerte, huellt es wirbelnd in eine / 4119 rothe staubwolke und traegt es wie ein geier in die luefte. verwirrt / 4120 suchen unsere blicke nach dem entschwundenen: denn was / 4121 sie sehen, ist wie aus einer versenkung ans goldne licht gestiegen, / 4122 so voll und gruen, so ueppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. / 4123 die tragoedie sitzt inmitten dieses ueberflusses an / 4124 leben, leid und lust, in erhabener entzueckung, sie horcht einem / 4125 fernen schwermuethigen gesange er erzaehlt von den muettern / 4126 des seins, deren namen lauten: wahn, wille, wehe. ja, meine / 4127 freunde, glaubt mit mir an das dionysische leben und an die / 4128 wiedergeburt der tragoedie. die zeit des sokratischen menschen / 4129 ist vorueber: kraenzt euch mit efeu, nehmt den thyrsusstab zur / 4130 hand und wundert euch nicht, wenn tiger und panther sich / 4131 schmeichelnd zu euren knien niederlegen. jetzt wagt es nur, tragische / 4132 menschen zu sein: denn ihr sollt erloest werden. ihr sollt / 4133 den dionysischen festzug von indien nach griechenland geleiten. / 4134 ruestet euch zu hartem streite, aber glaubt an die wunder eures / 4135 gottes. / 4136 von diesen exhortatiuen toenen in die stimmung zurueckgleitend, / 4137 die dem beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von / 4138 den griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches / 4139 ploetzliches aufwachen der tragoedie fuer den innersten lebensgrund / 4140 eines volkes zu bedeuten hat. es ist das volk der tragischen / 4141 mysterien, das die perserschlachten schlaegt: und wiederum / 4142 braucht das volk, das jene kriege gefuehrt hat, die tragoedie als nothwendigen / 4143 genesungstrank. wer wuerde gerade bei diesem / 4144 volke, nachdem es durch mehrere generationen von den staerksten / 4145 zuckungen des dionysischen daemons bis ins innerste erregt / 4146 wurde, noch einen so gleichmaessig kraeftigen erguss des einfachsten / 4147 politischen gefuehls, der natverlichsten heimatinstincte der / 4148 $V00 C0129 L 1 4149 urspruenglichen maennlichen kampflust vermuthen. ist es doch bei / 4150 jedem bedeutenden umsichgreifen dionysischer erregungen / 4151 immer zu spveren, wie die dionysische loesung von den fesseln des / 4152 indiuiduums sich am allerersten in einer bis zur gleichgueltigkeit, / 4153 ja feindseligkeit gesteigerten beeintraechtigung der politischen instincte / 4154 fuehlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende / 4155 apollo auch der genius des principii indiuiduationis ist und staat / 4156 und heimatssinn nicht ohne bejahung der indiuiduellen persoenlichkeit / 4157 leben koennen. von dem orgiasmus aus fuehrt fuer ein / 4158 volk nur ein weg, der weg zum indischen buddhaismus, der, um / 4159 ueberhaupt mit seiner sehnsucht ins nichts ertragen zu werden, / 4160 jener seltnen ekstatischen zustaende mit ihrer erhebung ueber / 4161 raum, zeit und indiuiduum bedarf: wie diese wiederum eine / 4162 philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche unlust der / 4163 zwischenzustaende durch eine vorstellung zu ueberwinden. ebenso / 4164 nothwendig geraeth ein volk, von der unbedingten geltung / 4165 der politischen triebe aus, in eine bahn aeusserster verweltlichung, / 4166 deren grossartigster, aber auch erschrecklichster ausdruck das / 4167 roemische imperium ist. / 4168 zwischen indien und rom hingestellt und zu verfuehrerischer / 4169 wahl gedraengt, ist es den griechen gelungen, in classischer reinheit / 4170 eine dritte form hinzuzverfinden, freilich nicht zu langem / 4171 eigenem gebrauche, aber ebendarum fuer die unsterblichkeit. / 4172 denn dass die lieblinge der goetter frueh sterben, gilt in allen / 4173 dingen, aber ebenso gewiss, dass sie mit den goettern dann ewig / 4174 leben. man verlange doch von dem alleredelsten nicht, dass es / 4175 die haltbare zaehigkeit des leders habe; die derbe daverhaftigkeit, / 4176 wie sie zum beispiel dem roemischen nationaltriebe zu eigen war, gehoert / 4177 wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen praedicaten der / 4178 vollkommenheit. wenn wir aber fragen, mit welchem heilmittel / 4179 es den griechen ermoeglicht war, in ihrer grossen zeit, bei der / 4180 ausserordentlichen staerke ihrer dionysischen und politischen / 4181 triebe, weder durch ein ekstatisches brueten noch durch ein verzehrendes / 4182 haschen nach weltmacht und weltehre sich zu erschoepfen, / 4183 $V00 C0130 L 1 4184 sondern jene herrliche mischung zu erreichen, wie sie / 4185 ein edler, zugleich befevernder und beschaulich stimmender wein / 4186 hat, so muessen wir der ungeheuren, das ganze volksleben erregenden, / 4187 reinigenden und entladenden gewalt der tragoedie / 4188 eingedenk sein; deren hoechsten werth wir erst ahnen werden, / 4189 wenn sie uns, wie bei den griechen, als inbegriff aller prophylaktischen / 4190 heilkraefte, als die zwischen den staerksten und an sich / 4191 verhaengnisvollsten eigenschaften des volkes waltende mittlerin / 4192 entgegentritt. / 4193 die tragoedie saugt den hoechsten musikorgiasmus in sich hinein, / 4194 so dass sie geradezu die musik, bei den griechen wie bei / 4195 uns, zur vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen / 4196 mythus und den tragischen helden daneben, der dann, einem / 4197 maechtigen titanen gleich, die ganze dionysische welt auf seinen / 4198 ruecken nimmt und uns davon entlastet: waehrend sie andrerseits / 4199 durch denselben tragischen mythus, in der person des tragischen / 4200 helden, von dem gierigen drange nach diesem dasein zu erloesen / 4201 weiss und mit mahnender hand an ein anderes sein und an eine / 4202 hoehere lust erinnert, zu welcher der kaempfende held durch / 4203 seinen untergang, nicht durch seine siege, sich ahnungsvoll vorbereitet. / 4204 die tragoedie stellt zwischen die universale geltung ihrer / 4205 musik und den dionysisch empfaenglichen zuhoerer ein erhabenes / 4206 gleichnis: den mythus und erweckt bei jenem den schein, als / 4207 ob die musik nur ein hoechstes darstellungsmittel zur belebung / 4208 der plastischen welt des mythus sei. dieser edlen taeuschung vertrauend, / 4209 darf sie jetzt ihre glieder zum dithyrambischen tanze / 4210 bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen gefuehle der / 4211 freiheit hingeben, in welchem sie als musik an sich, ohne jene / 4212 taeuschung, nicht zu schwelgen wagen dverfte. der mythus schuetzt / 4213 uns vor der musik, wie er ihr andrerseits erst die hoechste freiheit / 4214 giebt. dafuer verleiht die musik, als gegengeschenk, dem tragischen / 4215 mythus eine so eindringliche und ueberzeugende metaphysische / 4216 bedeutsamkeit, wie sie wort und bild, ohne jene einzige / 4217 huelfe nie zu erreichen vermoegen; und insbesondere ueberkommt / 4218 $V00 C0131 L 1 4219 durch sie den tragischen zuschaver gerade jenes sichere vorgefuehl / 4220 einer hoechsten lust, zu der der weg durch untergang und verneinung / 4221 fuehrt, so dass er zu hoeren meint, als ob der innerste abgrund / 4222 der dinge zu ihm vernehmlich spraeche. / 4223 habe ich dieser schwierigen vorstellung mit den letzten saetzen / 4224 uielleicht nur einen vorlaeufigen, fuer wenige sofort verstaendlichen / 4225 ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieser / 4226 stelle nicht ablassen, meine freunde zu einem nochmaligen versuche / 4227 anzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen beispiele / 4228 unsrer gemeinsamen erfahrung sich fuer die erkenntniss des allgemeinen / 4229 satzes vorzubereiten. bei diesem beispiele darf ich mich / 4230 nicht auf jene beziehn, welche die bilder der scenischen vorgaenge, / 4231 die worte und affecte der handelnden personen benutzen, um / 4232 sich mit dieser huelfe der musikempfindung anzunaehern; denn / 4233 diese alle reden nicht musik als muttersprache und kommen auch, / 4234 trotz jener huelfe nicht weiter als in die vorhallen der musikperception / 4235 ohne je deren innerste heiligthuemer beruehren zu / 4236 dverfen; manche von diesen, wie geruinus, gelangen auf diesem / 4237 wege nicht einmal in die vorhallen. sondern nur an diejenigen / 4238 habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der / 4239 musik, in ihr gleichsam ihren mutterschooss haben und mit den / 4240 dingen fast nur durch unbewusste musikrelationen in verbindung / 4241 stehen. an diese aechten musiker richte ich die frage, ob sie / 4242 sich einen menschen denken koennen, der den dritten act von / 4243 tristan und isolde, ohne alle beihuelfe von wort und bild, rein / 4244 als ungeheuren symphonischen satz zu percipiren imstande waere, / 4245 ohne unter einem krampfartigen ausspannen aller seelenfluegel / 4246 zu veratmen. ein mensch, der wie hier das ohr gleichsam an die / 4247 herzkammer des weltwillens gelegt hat, der das rasende begehren / 4248 zum dasein als donnernden strom oder als zartesten zerstaeubten / 4249 bach von hier aus in alle adern der welt sich ergiessen / 4250 fuehlt, er sollte nicht jaehlings zerbrechen. er sollte es ertragen, in / 4251 der elenden glaesernen huelle des menschlichen indiuiduums, den / 4252 widerklang zahlloser lust und weherufe aus dem weiten / 4253 $V00 C0132 L 1 4254 raum der weltennacht zu vernehmen, ohne bei diesem hirtenreigen / 4255 der metaphysik sich seiner urheimat unaufhaltsam zuzufluechten. / 4256 wenn aber doch ein solches werk als ganzes percipirt / 4257 werden kann, ohne verneinung der indiuidualexistenz, wenn / 4258 eine solche schoepfung geschaffen werden konnte, ohne ihren / 4259 schoepfer zu zerschmettern woher nehmen wir die loesung eines / 4260 solchen widerspruches. / 4261 hier draengt sich zwischen unsre hoechste musikerregung und / 4262 jene musik der tragische mythus und der tragische held, im / 4263 grunde nur als gleichnis der alleruniversalsten thatsachen von / 4264 denen allein die musik auf directem wege reden kann. als gleichnis / 4265 wuerde nun aber der mythus, wenn wir als rein dionysische / 4266 wesen empfaenden, gaenzlich wirkungslos und unbeachtet neben / 4267 uns stehenbleiben und uns keinen augenblick abwendig davon / 4268 machen, unser ohr dem widerklang der universalia ante rem zu / 4269 bieten. hier bricht jedoch die apollinische kraft, auf wiederherstellung / 4270 des fast zersprengten indiuiduums gerichtet, mit / 4271 dem heilbalsam einer wonnevollen taeuschung hervor: ploetzlich / 4272 glauben wir nur noch tristan zu sehen, wie er bewegungslos und / 4273 dumpf sich fragt: die alte weise; was weckt sie mich. und was / 4274 uns frueher wie ein hohles seufzen aus dem mittelpunkte des seins / 4275 anmuthete das will uns jetzt nur sagen, wie oed und leer das / 4276 meer. und wo wir athemlos zu erloeschen waehnten, im krampfartigen / 4277 sichausrecken aller gefuehle, und nur ein weniges uns mit / 4278 dieser existenz zusammenknuepfte, hoeren und sehen wir jetzt / 4279 nur den zum tode verwundeten und doch nicht sterbenden helden / 4280 mit seinem verzweiflungsvollen rufe: sehnen, sehnen. im / 4281 sterben mich zu sehnen, vor sehnsucht nicht zu sterben. und / 4282 wenn frueher der jubel des horns nach solchem uebermaass und / 4283 solcher ueberzahl verzehrender qualen fast wie der qualen / 4284 hoechste uns das herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und / 4285 diesem jubel an sich der jauchzende kurwenal, dem schiffe, das / 4286 isolden traegt, zugewandt. so gewaltig auch das mitleiden in uns / 4287 hineingreift, in einem gewissen sinne rettet uns doch das mitleiden / 4288 $V00 C0133 L 1 4289 vor dem urleiden der welt wie das gleichnisbild des / 4290 mythus uns vor dem unmittelbaren anschaun der hoechsten weltidee / 4291 wie der gedanke und das wort uns vor dem ungedaemmten / 4292 ergusse des unbewussten willens rettet. durch jene herrliche / 4293 apollinische taeuschung duenkt es uns, als ob uns selbst das tonreich / 4294 wie eine plastische welt gegenuebertraete, als ob auch in ihr / 4295 nur tristans und isoldens schicksal, wie in einem allerzartesten / 4296 und ausdrucksfaehigsten stoffe, geformt und bildnerisch ausgepraegt / 4297 worden sei. / 4298 so entreisst uns das apollinische der dionysischen allgemeinheit / 4299 und entzueckt uns fuer die indiuiduen; an diese fesselt es unsre / 4300 mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und / 4301 erhabenen formen lechzenden schoenheitssinn; es fuehrt an uns / 4302 lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem erfassen / 4303 des in ihnen enthaltenen lebenskernes. mit der ungeheuren wucht / 4304 des bildes, des begriffs, der ethischen lehre, der sympatischen / 4305 erregung reisst das apollinische den menschen aus seiner orgiastischen / 4306 selbstvernichtung empor und taeuscht ihn ueber die allgemeinheit / 4307 des dionysischen vorganges hinweg zu dem wahne, / 4308 dass er ein einzelnes weltbild, zum beispiel tristan und isolde, sehe und / 4309 es, durch die musik, nur noch besser und innerlicher / 4310 sehen solle. was vermag nicht der heilkundige zauber des / 4311 apollo, wenn er selbst in uns die taeuschung aufregen kann, als ob / 4312 wirklich das dionysische, im dienste des apollinischen, dessen / 4313 wirkungen zu steigern vermoechte, ja als ob die musik sogar / 4314 wesentlich darstellungskunst fuer einen apollinischen inhalt sei. / 4315 bei jener praestabilirten harmonie, die zwischen dem vollendeten / 4316 drama und seiner musik waltet, erreicht das drama / 4317 einen hoechsten, fuer das wortdrama sonst unzugaenglichen grad / 4318 von schaubarkeit. wie alle lebendigen gestalten der scene in den / 4319 selbstaendig bewegten melodienlinien sich zur deutlichkeit der / 4320 geschwungenen linie vor uns vereinfachen, ertoent uns das nebeneinander / 4321 dieser linien in dem mit dem bewegten vorgange auf / 4322 zarteste weise sympathisirenden harmonienwechsel: durch / 4323 $V00 C0134 L 1 4324 welchen uns die relationen der dinge in sinnlich wahrnehmbarer, / 4325 keinesfalls abstracter weise, unmittelbar vernehmbar werden, / 4326 wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass erst in diesen relationen / 4327 das wesen eines charakters und einer melodienlinie sich rein / 4328 offenbare. und waehrend uns so die musik zwingt, mehr und / 4329 innerlicher als sonst zu sehen und den vorhang der scene wie ein / 4330 zartes gespinst vor uns auszubreiten, ist fuer unser vergeistigtes, / 4331 ins innere blickendes auge die welt der buehne ebenso unendlich / 4332 erweitert als von innen heraus erleuchtet. was vermoechte der / 4333 wortdichter analoges zu bieten, der mit einem uiel unvollkommneren / 4334 mechanismus, auf indirectem wege, vom wort und vom / 4335 begriff aus, jene innterliche erweiterung der schaubaren buehnenwelt / 4336 und ihre innere erleuchtung zu erreichen sich abmueht. / 4337 nimmt nun zwar auch die musikalische tragoedie das wort hinzu, / 4338 so kann sie doch zugleich den untergrund und die geburtsstaette / 4339 des worte danebenstellen und uns das werden des wortes, von / 4340 innen heraus, verdeutlichen. / 4341 aber von diesem geschilderten vorgang waere doch ebenso / 4342 bestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher schein, naemlich jene / 4343 vorhin erwaehnte apollinische taeuschung sei, durch deren / 4344 wirkung wir von dem dionysischen andrange und uebermaasse / 4345 entlastet werden sollen. im grunde ist ja das verhaeltniss der / 4346 musik zum drama gerade das umgekehrte: die musik ist die / 4347 eigentliche idee der welt, das drama nur ein abglanz dieser idee, / 4348 ein vereinzeltes schattenbild derselben. jene identitaet zwischen / 4349 der melodienlinie und der lebendigen gestalt, zwischen der harmonie / 4350 und den charakterrelationen jener gestalt ist in einem / 4351 entgegengesetzten sinne wahr, als es uns, beim anschaun der / 4352 musikalischen tragoedie, duenken moechte. wir moegen die gestalt / 4353 uns auf das sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus / 4354 beleuchten, sie bleibt immer nur die erscheinung, von der es keine / 4355 bruecke giebt die in die wahre realitaet, ins herz der welt fuehrte. / 4356 aus diesem herzen heraus aber redet die musik; und zahllose / 4357 erscheinungen jener art dverften an der gleichen musik vorueberziehn, / 4358 $V00 C0135 L 1 4359 sie wuerden nie das wesen derselben erschoepfen, sondern / 4360 immer nur ihre veraeusserlichten abbilder sein. mit dem populaeren / 4361 und gaenzlich falschen gegensatz von seele und koerper ist / 4362 freilich fuer das schwierige verhaeltniss von musik und drama / 4363 nichts zu erklaeren und alles zu verwirren; aber die unphilosophische / 4364 roheit jenes gegensatzes scheint gerade bei unseren / 4365 aesthetikern, wer weiss aus welchen gruenden, zu einem gern bekannten / 4366 glaubensartikel geworden zu sein, waehrend sie ueber / 4367 einen gegensatz der erscheinung und des dinges an sich nichts / 4368 gelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten gruenden, nichts / 4369 lernen mochten. / 4370 sollte es sich bei unserer analysis ergeben haben, dass das / 4371 apollinische in der tragoedie durch seine taeuschung voellig den / 4372 sieg ueber das dionysische urelement der musik davongetragen / 4373 und sich diese zu ihren absichten, naemlich zu einer hoechsten verdeutlichung / 4374 des dramas, nutzbar gemacht habe, so waere freilich / 4375 eine sehr wichtige einschraenkung hinzuzufuegen: in dem allerwesentlichsten / 4376 punkte ist jene apollinische taeuschung durchbrochen / 4377 und vernichtet. das drama, das in so innerlich erleuchteter / 4378 deutlichkeit aller bewegungen und gestalten, mit huelfe der / 4379 musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das gewebe am webstuhl / 4380 im aufundniederzucken entstehen sehen erreicht als / 4381 ganzes eine wirkung, die jenseits aller apollinischen / 4382 kunstwirkungen liegt. in der gesammtwirkung der tragoedie / 4383 erlangt das dionysische wieder das uebergewicht; sie / 4384 schliesst mit einem klange, der niemals von dem reiche der / 4385 apollinischen kunst her toenen koennte. und damit erweist sich die / 4386 apollinische taeuschung als das, was sie ist als die waehrend der / 4387 daver der tragoedie anhaltende umschleierung der eigentlichen / 4388 dionysischen wirkung: die doch so maechtig ist, am schluss das / 4389 apollinische drama selbst in eine sphaere zu draengen, wo es mit / 4390 dionysischer weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und / 4391 seine apollinische sichtbarkeit verneint. so waere wirklich das / 4392 schwierige verhaeltniss des apollinischen und des dionysischen in / 4393 $V00 C0136 L 1 4394 der tragoedie durch einen bruderbund beider gottheiten zu symbolisiren / 4395 dionysus redet die sprache des apollo, apollo aber / 4396 schliesslich die sprache des dionysus: womit das hoechste ziel der / 4397 tragoedie und der kunst ueberhaupt erreicht ist. / 4398 mag der aufmerksame freund sich die wirkung einer wahren / 4399 musikalischen tragoedie rein und unvermischt, nach seinen erfahrungen, / 4400 vergegenwaertigen. ich denke das phaenomen dieser wirkung / 4401 nach beiden seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich / 4402 seine eignen erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. er wird / 4403 sich naemlich erinnern, wie er, im hinblick auf den vor ihm sich / 4404 bewegenden mythus, zu einer art von allwissenheit sich gesteigert / 4405 fuehlte, als ob jetzt die sehkraft seiner augen nicht nur eine / 4406 flaechenkraft sei, sondern ins innere zu dringen vermoege und als / 4407 ob er die wallungen des willens, den kampf der motiue, den / 4408 anschwellenden strom der leidenschaften, jetzt, mit huelfe der / 4409 musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine fuelle lebendig bewegter / 4410 linien und figuren, vor sich sehe und damit bis in die / 4411 zartesten geheimnisse unbewusster regungen hinabtauchen / 4412 koenne. waehrend er so einer hoechsten steigerung seiner auf sichtbarkeit / 4413 und verklaerung gerichteten triebe bewusst wird, fuehlt / 4414 er doch ebenso bestimmt, dass diese lange reihe apollinischer / 4415 kunstwirkungen doch nicht jenes beglueckte verharren in willenlosem / 4416 anschauen erzeugt, das der plastiker und der epische / 4417 dichter, also die eigentlich apollinischen kuenstler, durch ihre / 4418 kunstwerke bei ihm hervorbringen: das heisst die in jenem anschauen / 4419 erreichte rechtfertigung der welt der indiuiduatio, als / 4420 welche die spitze und der inbegriff der apollinischen kunst ist. / 4421 er schaut die verklaerte welt der buehne und verneint sie doch. er / 4422 sieht den tragischen helden vor sich in epischer deutlichkeit und / 4423 schoenheit und erfreut sich doch an seiner vernichtung. er begreift / 4424 bis ins innerste den vorgang der scene und fluechtet sich gern / 4425 ins unbegreifliche. er fuehlt die handlungen des helden / 4426 $V00 C0137 L 1 4427 als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn diese / 4428 handlungen den urheber vernichten. er schaudert vor den / 4429 leiden, die den helden treffen werden, und ahnt doch bei ihnen / 4430 eine hoehere, uiel uebermaechtigere lust. er schaut mehr und tiefer / 4431 als je und wuenscht sich doch erblindet. woher werden wir diese / 4432 wunderbare selbstentzweiung, dies umbrechen der apollinischen / 4433 spitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem dionysischen / 4434 zauber, der, zum schein die apollinischen regungen aufs hoechste / 4435 reizend, doch noch diesen ueberschwang der apollinischen kraft / 4436 in seinen dienst zu zwingen vermag. der tragische mythus / 4437 ist nur zu verstehen als eine verbildlichung dionysischer / 4438 weisheit durch apollinische kunstmittel; er fuehrt die welt der erscheinung / 4439 an die grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder / 4440 in den schooss der wahren und einzigen realitaet zurueckzufluechten / 4441 sucht; wo sie dann, mit isolden, ihren metaphysischen schwanengesang / 4442 also anzustimmen scheint: / 4443 in des wonnemeeres / 4444 wogendem schwall, / 4445 in der duftwellen / 4446 toenendem schall, / 4447 in des weltathems / 4448 wehendem all / 4449 ertrinken versinken / 4450 unbewusst hoechste lust. / 4451 so vergegenwaertigen wir uns, an den erfahrungen des wahrhaft / 4452 aesthetischen zuhoerers, den tragischen kuenstler selbst, wie er, / 4453 gleich einer ueppigen gottheit der indiuiduatio, seine gestalten / 4454 schafft, in welchem sinne sein werk kaum als nachahmung der / 4455 natur zu begreifen waere wie dann aber sein ungeheurer / 4456 dionysischer trieb diese ganze welt der erscheinungen verschlingt, / 4457 um hinter ihr und durch ihre vernichtung eine hoechste / 4458 kuenstlerische urfreude im schoosse des ureinen ahnen zu lassen. / 4459 freilich wissen von dieser rueckkehr zur urheimat, von dem / 4460 bruderbunde der beiden kunstgottheiten in der tragoedie und von / 4461 der sowohl apollinischen als dionysischen erregung des zuhoerers / 4462 $V00 C0138 L 1 4463 unsere aesthetiker nichts zu berichten, waehrend sie nicht muede / 4464 werden, den kampf des helden mit dem schicksal, den sieg der / 4465 sittlichen weltordnung oder eine durch die tragoedie bewirkte / 4466 entladung von affecten als das eigentlich tragische zu charakterisiren / 4467 welche unverdrossenheit mich auf den gedanken / 4468 bringt, sie moechten ueberhaupt keine aesthetisch erregbaren menschen / 4469 sein und beim anhoeren der tragoedie uielleicht nur als / 4470 moralische wesen in betracht kommen. noch nie, seit aristoteles, / 4471 ist eine erklaerung der tragischen wirkung gegeben worden, aus / 4472 der auf kuenstlerische zustaende, auf eine aesthetische thaetigkeit / 4473 der zuhoerer geschlossen werden dverfte. bald soll mitleid und / 4474 furchtsamkeit durch die ernsten vorgaenge zu einer erleichternden / 4475 entladung gedraengt werden, bald sollen wir uns bei dem sieg / 4476 guter und edler principien bei der aufopferung des helden im / 4477 sinne einer sittlichen weltbetrachtung erhoben und begeistert / 4478 fuehlen; und so gewiss ich glaube, dass fuer zahlreiche menschen / 4479 gerade das, und nur das, die wirkung der tragoedie ist, so deutlich / 4480 ergibt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretierenden / 4481 aesthetikern, von der tragoedie als einer hoechsten kunst nichts / 4482 erfahren haben. jene pathologische entladung, die katharsis (laeuterung) des / 4483 aristoteles, von der die philologen nicht recht wissen, ob sie unter / 4484 die medicinischen oder die moralischen phaenomene zu rechnen / 4485 sei, erinnert an eine merkwuerdige ahnung goethes. ohne ein / 4486 lebhaftes pathologisches interesse, sagt er, ist es auch mir niemals / 4487 gelungen, irgendeine tragische situation zu bearbeiten, und / 4488 ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. sollte es wohl / 4489 auch einer von den vorzuegen der alten gewesen sein, dass das / 4490 hoechste pathetische auch nur aesthetisches spiel bei ihnen gewesen / 4491 waere, da bei uns die naturwahrheit mitwirken muss, um ein / 4492 solches werk hervorzubringen. diese so tiefsinnige letzte frage / 4493 dverfen wir jetzt, nach unseren herrlichen erfahrungen, bejahen, / 4494 nachdem wir gerade an der musikalischen tragoedie mit staunen / 4495 erlebt haben, wie wirklich das hoechste pathetische doch nur ein / 4496 aesthetisches spiel sein kann: weshalb wir glauben dverfen, dass / 4497 $V00 C0139 L 1 4498 erst jetzt das urphaenomen des tragischen mit einigem erfolg zu / 4499 beschreiben ist. wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden / 4500 wirkungen aus ausseraesthetischen sphaeren zu erzaehlen hat und / 4501 ueber den pathologisch moralischen prozess sich nicht hinausgehoben / 4502 fuehlt, mag nur an seiner aesthetischen natur verzweifeln / 4503 wogegen wir ihm die interpretation shakespeares nach der / 4504 manier des geruinus und das fleissige aufspveren der poetischen / 4505 gerechtigkeit als unschuldigen ersatz anempfehlen. / 4506 so ist mit der wiedergeburt der tragoedie auch der aesthetische / 4507 zuhoerer wieder geboren, an dessen stelle bisher in / 4508 den theaterraeumen ein seltsames quidproqvo, mit halb moralischen / 4509 und halb gelehrten anspruechen, zu sitzen pflegte, der / 4510 kritiker. in seiner bisherigen sphaere war alles kuenstlich und / 4511 nur mit einem scheine des lebens uebertuencht. der darstellende / 4512 kuenstler wusste in der that nicht mehr, was er mit einem solchen, / 4513 kritisch sich gebaerdenden zuhoerer zu beginnen habe, und spaehte / 4514 daher, sammt dem ihn inspirierenden dramatiker oder operncomponisten / 4515 unruhig nach den letzten resten des lebens in diesem / 4516 anspruchsvoll oeden und zum geniessen unfaehigen wesen. aus / 4517 derartigen kritikern bestand aber bisher das publicum der / 4518 student, der schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche geschoepf / 4519 war wider sein wissen bereits durch erziehung und journale / 4520 zu einer gleichen perception eines kunstwerks vorbereitet. / 4521 die edleren naturen unter den kuenstlern rechneten bei einem / 4522 solchen publicum auf die erregung moralisch religioeser kraefte, / 4523 und der anruf der sittlichen weltordnung trat uikarirend ein, / 4524 wo eigentlich ein gewaltiger kunstzauber den aechten zuhoerer / 4525 entzuecken sollte. oder es wurde vom dramatiker eine grossartigere, / 4526 mindestens aufregende tendenz der politischen und / 4527 socialen gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der zuhoerer / 4528 seine kritische erschoepfung vergessen und sich aehnlichen affecten / 4529 ueberlassen konnte wie in patriotischen oder kriegerischen momenten; / 4530 oder vor der rednerbuehne des parlaments; oder bei der verurteilung / 4531 des verbrechens und des lasters welche entfremdung / 4532 $V00 C0140 L 1 4533 der eigentlichen kunstabsichten hier und da geradezu zu einem / 4534 cultus der tendenz fuehren musste. doch hier trat ein, was bei / 4535 allen erkuenstelten kuensten von jeher eingetreten ist: eine reissend / 4536 schnelle deprauation jener tendenzen, so dass zum beispiel die / 4537 tendenz, das theater als veranstaltung zur moralischen volksbildung / 4538 zu verwenden, die zu schillers zeit ernsthaft genommen / 4539 wurde, bereits unter die unglaubwuerdigen antiquitaeten einer / 4540 ueberwundenen bildung gerechnet wird. waehrend der kritiker / 4541 in theater und concert der journalist in der schule, die presse / 4542 in der gesellschaft zur herrschaft gekommen war, entartete die / 4543 kunst zu einem unterhaltungsobject der niedrigsten art, und die / 4544 aesthetische kritik wurde als das bindemittel einer eiteln, zerstreuten, / 4545 selbstsuechtigen und ueberdies aermlich unoriginalen geselligkeit / 4546 benutzt, deren sinn jene schopenhaverische parabel von / 4547 den stachelschweinen zu verstehen giebt so dass zu keiner zeit / 4548 so uiel ueber kunst geschwatzt und so wenig von der kunst gehalten / 4549 worden ist. kann man aber mit einem menschen noch verkehren, / 4550 der imstande ist, sich ueber beethouen und shakespeare / 4551 zu unterhalten. mag jeder nach seinem gefuehl diese frage beantworten: / 4552 er wird mit der antwort jedenfalls beweisen, was er / 4553 sich unter bildung vorstellt, vorausgesetzt dass er die frage / 4554 ueberhaupt zu beantworten sucht und nicht vor ueberraschung / 4555 bereits verstummt ist. / 4556 dagegen dverfte mancher edler und zarter von der natur befaehigte, / 4557 ob er gleich in der geschilderten weise allmaehlich zum / 4558 kritischen barbaren geworden war, von einer ebenso unerwarteten / 4559 als gaenzlich unverstaendlichen wirkung zu erzaehlen haben, die / 4560 etwa eine gluecklich gelungene lohengrinauffuehrung auf ihn ausuebte: / 4561 nur dass ihm uielleicht jede hand fehlte, die ihn mahnend / 4562 und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige / 4563 und durchaus unvergleichliche empfindung, die ihn damals / 4564 erschuetterte, vereinzelt blieb und wie ein raethselhaftes gestirn / 4565 nach kurzem leuchten erlosch. damals hatte er geahnt was der / 4566 aesthetische zuhoerer ist. / 4567 $V00 C0141 L 2 4568 wer recht genau sich selber pruefen will, wie sehr er dem wahren / 4569 aesthetischen zuhoerer verwandt ist oder zur gemeinschaft / 4570 der sokratisch kritischen menschen gehoert, der mag sich nur aufrichtig / 4571 nach der empfindung fragen, mit der er das auf der buehne / 4572 dargestellte wunder empfaengt: ob er etwa dabei seinen / 4573 historischen, auf strenge psychologische causalitaet gerichteten / 4574 sinn beleidigt fuehlt, ob er mit einer wohlwollenden concession / 4575 gleichsam das wunder als ein der kindheit verstaendliches, ihm / 4576 entfremdetes phaenomen zulaest oder ob er irgend etwas anderes / 4577 dabei erleidet. daran naemlich wird er messen koennen, wie weit / 4578 er ueberhaupt befaehigt ist, den mythus, das zusammengezogene / 4579 weltbild, zu verstehen, der als abbreuiatur der erscheinung, / 4580 das wunder nicht entbehren kann. das wahrscheinliche ist / 4581 aber, dass fast jeder, bei strenger pruefung, sich so durch den / 4582 kritisch historischen geist unserer bildung zersetzt fuehlt, um nur / 4583 etwa auf gelehrtem wege, durch vermittelnde abstractionen / 4584 sich die einstmalige existenz des mythus glaublich zu machen. / 4585 ohne mythus aber geht jede cultur ihrer gesunden schoepferischen / 4586 naturkraft verlustig: erst ein mit mythen umstellter horizont / 4587 schliesst eine ganze culturbewegung zur einheit ab. alle / 4588 kraefte der phantasie und des apollinischen traumes werden erst / 4589 durch den mythus aus ihrem wahllosen herumschweifen gerettet. / 4590 die bilder des mythus muessen die unbemerkt allgegenwaertigen / 4591 daemonischen waechter sein, unter deren hut die junge seele heranwaechst, / 4592 an deren zeichen der mann sich sein leben und seine / 4593 kaempfe deutet: und selbst der staat kennt keine maechtigeren / 4594 ungeschriebnen gesetze als das mythische fundament, das seinen / 4595 zusammenhang mit der religion, sein herauswachsen aus mythischen / 4596 vorstellungen verbvergt. / 4597 man stelle jetzt daneben den abstracten ohne mythen geleiteten / 4598 menschen, die abstracte erziehung, die abstracte sitte, / 4599 das abstracte recht, den abstracten staat; man vergegenwaertige / 4600 $V00 C0142 L 1 4601 sich das regellose, von keinem heimischen mythus gezuegelte / 4602 schweifen der kuenstlerischen phantasie; man denke sich eine / 4603 cultur die keinen festen und heiligen ursitz hat, sondern alle / 4604 moeglichkeiten zu erschoepfen und von allen culturen sich kuemmerlich / 4605 zu naehren verurtheilt ist; das ist die gegenwart, als das / 4606 resultat jenes auf vernichtung des mythus gerichteten sokratismus. / 4607 und nun steht der mythenlose mensch, ewig hungernd, / 4608 unter allen vergangenheiten und sucht grabend und wuehlend / 4609 nach wurzeln, sei es, dass er auch in den entlegensten altertuemern / 4610 nach ihnen graben muesste. worauf weist das ungeheure / 4611 historische bedverfniss der unbefriedigten modernen cultur das / 4612 umsichsammeln zahlloser anderer culturen das verzehrende / 4613 erkennenwollen, wenn nicht auf den verlust des mythus, auf den / 4614 verlust der mythischen heimat, des mythischen mutterschoosses. / 4615 man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche sichregen / 4616 dieser cultur etwas anderes ist als das gierige zugreifen und / 4617 nach nahrung haschen des hungernden und wer moechte / 4618 einer solchen cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was / 4619 sie verschlingt, nicht zu saettigen ist und bei deren beruehrung sich / 4620 die kraeftigste, heilsamste nahrung in historie und kritik zu / 4621 verwandeln pflegt. / 4622 man muesste auch an unserem deutschen wesen schmerzlich / 4623 verzweifeln, wenn es bereits in gleicher weise mit seiner cultur / 4624 unloesbar verstrickt, ja eins geworden waere, wie wir das an dem / 4625 ciuilisierten frankreich zu unserem entsetzen beobachten koennen; / 4626 und das, was lange zeit der grosse vorzug frankreichs und die / 4627 ursache seines ungeheuren uebergewichts war, ebenjenes einssein / 4628 von volk und cultur dverfte uns bei diesem anblick noethigen / 4629 darin das glueck zu preisen, dass diese unsere so fragwuerdige / 4630 cultur bis jetzt mit dem edeln kerne unseres volkscharakters / 4631 nichts gemein hat. alle unsere hoffnungen strecken sich uielmehr / 4632 sehnsuchtsvoll nach jener wahrnehmung aus, dass unter diesem / 4633 unruhig auf und nieder zuckenden culturleben und bildungskrampfe / 4634 eine herrliche, innerlich gesunde, uralte kraft verborgen / 4635 $V00 C0143 L 1 4636 liegt, die freilich nur in ungeheuren momenten sich gewaltig einmal / 4637 bewegt und dann wieder einem zukuenftigen erwachen entgegentraeumt. / 4638 aus diesem abgrunde ist die deutsche reformation / 4639 hervorgewachsen: in deren choral die zukunftsweise der deutschen / 4640 musik zverst erklang. so tief, muthig und seelenvoll, so / 4641 ueberschwaenglich gut und zart toente dieser choral luthers: als / 4642 der erste dionysische lockruf der aus dichtverwachsenem gebuesch, / 4643 im nahen des fruehlings, hervordringt. ihm antwortete in / 4644 wetteiferndem widerhall jener weihevoll uebermuethige festzug / 4645 dionysischer schwaermer, denen wir die deutsche musik danken / 4646 und denen wir die wiedergeburt des deutschen / 4647 mythus danken werden. / 4648 ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden freund / 4649 auf einen hochgelegenen ort einsamer betrachtung fuehren muss, / 4650 wo er nur wenige gefaehrten haben wird, und rufe ihm ermuthigend / 4651 zu, dass wir uns an unseren leuchtenden fuehrern, den / 4652 griechen, festzuhalten haben. von ihnen haben wir bis jetzt, zur / 4653 reinigung unserer aesthetischen erkenntniss jene beiden goetterbilder / 4654 entlehnt, von denen jedes ein gesondertes kunstreich fuer / 4655 sich beherrscht und ueber deren gegenseitige beruehrung und steigerung / 4656 wir durch die griechische tragoedie zu einer ahnung kamen. / 4657 durch ein merkwuerdiges auseinanderreissen beider kuenstlerischen / 4658 urtriebe musste uns der untergang der griechischen tragoedie / 4659 herbeigefuehrt erscheinen mit welchem vorgange eine degeneration / 4660 und umwandlung des griechischen volkscharakters im / 4661 einklang war, uns zu ernstem nachdenken auffordernd, wie / 4662 nothwendig und eng die kunst und das volk, mythus und sitte, / 4663 tragoedie und staat in ihren fundamenten verwachsen sind. / 4664 jener untergang der tragoedie war zugleich der untergang des / 4665 mythus. bis dahin waren die griechen unwillkverlich genoethigt / 4666 alles erlebte sofort an ihre mythen anzuknuepfen, ja es nur durch / 4667 diese anknuepfung zu begreifen: wodurch auch die naechste gegenwart / 4668 ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem sinne als zeitlos / 4669 erscheinen musste. in diesen strom des zeitlosen aber tauchte / 4670 $V00 C0144 L 1 4671 sich ebenso der staat wie die kunst, um in ihm vor der last und / 4672 der gier des augenblicks ruhe zu finden. und gerade nur so uiel / 4673 ist ein volk wie uebrigens auch ein mensch werth als es auf / 4674 seine erlebnisse den stempel des ewigen zu druecken vermag: / 4675 denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste / 4676 innerliche ueberzeugung von der relatiuitaet der zeit und / 4677 von der wahren, das heisst der metaphysischen bedeutung des lebens. / 4678 das gegenteil davon tritt ein, wenn ein volk anfaengt, sich / 4679 historisch zu begreifen und die mythischen bollwerke um sich / 4680 herum zu zertruemmern: womit gewoehnlich eine entschiedene verweltlichung, / 4681 ein bruch mit der unbewussten metaphysik seines / 4682 frueheren daseins, in allen ethischen consequenzen verbunden / 4683 ist. die griechische kunst und vornehmlich die griechische tragoedie / 4684 hielt vor allem die vernichtung des mythus auf: man musste / 4685 sie mit vernichten, um, losgeloest von dem heimischen boden, ungezuegelt / 4686 in der wildnis des gedankens, der sitte und der that / 4687 leben zu koennen. auch jetzt noch versucht jener metaphysische / 4688 trieb, sich eine, wenngleich abgeschwaechte form der verklaerung / 4689 zu schaffen, in dem zum leben draengenden sokratismus der wissenschaft; / 4690 aber auf den niederen stufen fuehrte derselbe trieb nur / 4691 zu einem fieberhaften suchen, das sich allmaehlich in ein pandaemonium / 4692 ueberallher zusammengehaeufter mythen und superstitionen (aberglauben) / 4693 verlor: in dessen mitte der hellene dennoch ungestillten herzens / 4694 sass, bis er es verstand, mit griechischer heiterkeit und griechischem / 4695 leichtsinn, als graeculus, jenes fieber zu maskiren oder in / 4696 irgendeinem orientalisch dumpfen aberglauben sich voellig zu / 4697 betaeuben. / 4698 diesem zustande haben wir uns, seit der wiedererweckung / 4699 des alexandrinisch roemischen alterthums im fuenfzehnten jahrhundert, / 4700 nach einem langen, schwer zu beschreibenden zwischenacte / 4701 in der auffaelligsten weise angenaehert. auf den hoehen dieselbe / 4702 ueberreiche wissenslust, dasselbe ungesaettigte finderglueck, / 4703 dieselbe ungeheure verweltlichung, daneben ein heimathloses herumschweifen, / 4704 ein gieriges sichdraengen an fremde tische, eine / 4705 $V00 C0145 L 1 4706 leichtsinnige vergoetterung der gegenwart oder stumpf betauebte / 4707 abkehr, alles sub specie saeculi, der jetztzeit: welche gleichen / 4708 symptome auf einen gleichen mangel im herzen dieser cultur / 4709 zu rathen geben: auf die vernichtung des mythus. es scheint / 4710 kaum moeglich zu sein, mit daverndem erfolge einen fremden / 4711 mythus ueberzupflanzen, ohne den baum durch dieses ueberpflanzen / 4712 heillos zu beschaedigen: welcher uielleicht einmal stark und / 4713 gesund genug ist, jenes fremde element mit furchtbarem kampfe / 4714 wieder auszuscheiden, fuer gewoehnlich aber siech und verkuemmert / 4715 oder in krankhaftem wuchern sich verzehren muss. wir halten so / 4716 uiel von dem reinen und kraeftigen kerne des deutschen wesens, / 4717 dass wir gerade von ihm jene ausscheidung gewaltsam eingepflanzter / 4718 fremder elemente zu erwarten wagen und es fuer moeglich / 4719 erachten, dass der deutsche geist sich auf sich selbst zurueckbesinnt. / 4720 uielleicht wird mancher meinen, jener geist muesse seinen / 4721 kampf mit der ausscheidung des romanischen beginnen: wozu / 4722 er eine aeusserliche vorbereitung und ermuthigung in der siegreichen / 4723 tapferkeit und blutigen glorie des letzten krieges erkennen / 4724 dverfte, die innerliche noethigung aber in dem wetteifer / 4725 suchen muss, der erhabenen vorkaempfer auf dieser bahn, luthers / 4726 ebensowohl als unserer grossen kuenstler und dichter, stets werth / 4727 zu sein. aber nie moege er glauben, aehnliche kaempfe ohne seine / 4728 hausgoetter, ohne seine mythische heimat, ohne ein wiederbringen / 4729 aller deutschen dinge, kaempfen zu koennen. und wenn / 4730 der deutsche zagend sich nach einem fuehrer umblicken sollte, der / 4731 ihn wieder in die laengst verlorne heimat zurueckbringe, deren / 4732 wege und stege er kaum mehr kennt so mag er nur dem / 4733 wonnig lockenden rufe des dionysischen vogels lauschen, der / 4734 ueber ihm sich wiegt und ihm den weg dahin deuten will. / 4735 wir hatten unter den eigenthuemlichen kunstwirkungen der / 4736 musikalischen tragoedie eine apollinische taeuschung hervorzuheben, / 4737 $V00 C0146 L 1 4738 durch die wir vor dem unmittelbaren einssein mit der / 4739 dionysischen musik gerettet werden sollen, waehrend unsre musikalische / 4740 erregung sich auf einem apollinischen gebiete und an / 4741 einer dazwischengeschobene sichtbaren mittelwelt entladen / 4742 kann. dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durch / 4743 diese entladung jene mittelwelt des scenischen vorgangs, ueberhaupt / 4744 das drama, in einem grade von innen heraus sichtbar und / 4745 verstaendlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen kunst / 4746 unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den / 4747 geist der musik beschwingt und emporgetragen war, die hoechste / 4748 steigerung ihrer kraefte und somit in jenem bruderbunde des / 4749 apollo und des dionysus die spitze ebensowohl der apollinischen / 4750 als der dionysischen kunstabsichten anerkennen mussten. / 4751 freilich erreichte das apollinische lichtbild gerade bei der / 4752 inneren beleuchtung durch die musik nicht die eigenthuemliche / 4753 wirkung der schwaecheren grade apollinischer kunst; was das / 4754 epos oder der beseelte stein vermoegen, das anschauende auge / 4755 zu jenem ruhigen entzuecken an der welt der indiuiduatio zu / 4756 zwingen, das wollte sich hier, trotz einer hoeheren beseeltheit und / 4757 deutlichkeit, nicht erreichen lassen. wir schauten das drama an / 4758 und drangen mit bohrendem blick in seine innere bewegte welt / 4759 der motiue und doch war uns, als ob nur ein gleichnisbild / 4760 an uns vorueberzoege, dessen tiefsten sinn wir fast zu errathen / 4761 glaubten und das wir, wie einen vorhang, fortzuziehen wuenschten, / 4762 um hinter ihm das urbild zu erblicken. die hellste deutlichkeit / 4763 des bildes genuegte uns nicht: denn dieses schien ebensowohl / 4764 etwas zu offenbaren als zu verhuellen; und waehrend es mit seiner / 4765 gleichnissartigen offenbarung zum zerreissen des schleiers, zur / 4766 enthuellung des geheimnissvollen hintergrundes aufzufordern / 4767 schien, hielt wiederum gerade jene durchleutete allsichtbarkeit / 4768 das auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen. / 4769 wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu muessen und / 4770 zugleich ueber das schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich / 4771 vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden prozesse bei / 4772 $V00 C0147 L 1 4773 der betrachtung des tragischen mythus nebeneinander bestehen / 4774 und nebeneinander empfunden werden: waehrend die wahrhaft / 4775 aesthetischen zuschaver mir bestaetigen werden, dass unter den / 4776 eigenthuemlichen wirkungen der tragoedie jenes nebeneinander / 4777 die merkwuerdigste sei. man uebertrage sich nun dieses phaenomen / 4778 des aesthetischen zuschavers in einen analogen prozess im tragischen / 4779 kuenstler, und man wird die genesis des tragischen / 4780 mythus verstanden haben. er theilt mit der apollinischen / 4781 kunstsphaere die volle lust am schein und am schauen, und zugleich / 4782 verneint er diese lust und hat eine noch hoehere befriedigung / 4783 an der vernichtung der sichtbaren scheinwelt. der inhalt / 4784 des tragischen mythus ist zunaechst ein episches ereignis mit / 4785 der verherrlichung des kaempfenden helden: woher stammt aber / 4786 jener an sich raethselhafte zug, dass das leiden im schicksale des / 4787 helden, die schmerzlichsten ueberwindungen, die qualvollsten / 4788 gegensaetze der motiue, kurz die exemplification jener weisheit / 4789 des silen, oder, aesthetisch ausgedrueckt, das haessliche und disharmonische, / 4790 in so zahllosen formen, mit solcher vorliebe immer / 4791 von neuem dargestellt wird und gerade in dem ueppigsten und / 4792 jugendlichsten alter eines volkes, wenn nicht gerade an diesem / 4793 allen eine hoehere lust percipirt wird. / 4794 denn dass es im leben wirklich so tragisch zugeht, wuerde / 4795 am wenigsten die entstehung einer kunstform erklaeren; wenn / 4796 anders die kunst nicht nur nachahmung der naturwirklichkeit, / 4797 sondern gerade ein metaphysisches supplement der naturwirklichkeit / 4798 ist, zu deren ueberwindung neben sie gestellt. der tragische / 4799 mythus, sofern er ueberhaupt zur kunst gehoert, nimmt / 4800 auch vollen anteil an dieser metaphysischen verklaerungsabsicht / 4801 der kunst ueberhaupt: was verklaert er aber, wenn er die erscheinungswelt / 4802 unter dem bilde des leidenden helden vorfuehrt. die / 4803 realitaet dieser erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt / 4804 uns gerade: seht hin. seht genau hin. dies ist ever leben. dies / 4805 ist der stundenzeiger an eurer daseinsuhr. / 4806 und dieses leben zeigte der mythus, um es vor uns damit / 4807 $V00 C0148 L 1 4808 zu verklaeren. wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische / 4809 lust, mit der wir auch jene bilder an uns vorueberziehen / 4810 lassen. ich frage nach der aesthetischen lust und weiss recht wohl, / 4811 dass uiele dieser bilder ausserdem mitunter noch eine moralische / 4812 ergetzung, etwa unter der form des mitleides oder eines sittlichen / 4813 triumphes, erzeugen koennen. wer die wirkung des / 4814 tragischen aber allein aus diesen moralischen quellen ableiten / 4815 wollte, wie es freilich in der aesthetik nur allzulange ueblich war, / 4816 der mag nur nicht glauben, etwas fuer die kunst damit gethan / 4817 zu haben: die vor allem reinheit in ihrem bereiche verlangen / 4818 muss. fuer die erklaerung des tragischen mythus ist es gerade die / 4819 erste forderung, die ihm eigenthuemliche lust in der rein aesthetischen / 4820 sphaere zu suchen, ohne in das gebiet des mitleids, der / 4821 furcht, des sittlich erhabenen ueberzugreifen. wie kann das haessliche / 4822 und das disharmonische, der inhalt des tragischen mythus, / 4823 eine aesthetische lust erregen. / 4824 hier nun wird es noethig uns mit einem kuehnen anlauf in / 4825 eine metaphysik der kunst hineinzuscwingen, indem ich den / 4826 frueheren satz wiederhole, dass nur als ein aesthetisches phaenomen / 4827 das dasein und die welt gerechtfertigt erscheint: in welchem / 4828 sinne uns gerade der tragische mythus zu ueberzeugen hat, / 4829 dass selbst das haessliche und disharmonische ein kuenstlerisches / 4830 spiel ist, welches der wille, in der ewigen fuelle seiner lust, mit / 4831 sich selbst spielt. dieses schwer zu fassende urphaenomen der / 4832 dionysischen kunst wird aber auf directem wege einzig verstaendlich / 4833 und unmittelbar erfasst in der wunderbaren bedeutung / 4834 der musikalischen dissonanz: wie ueberhaupt die / 4835 musik, neben die welt hingestellt, allein einen begriff davon / 4836 geben kann, was unter der rechtfertigung der welt als eines / 4837 aesthetischen phaenomens zu verstehen ist. die lust, die der tragische / 4838 mythus erzeugt, hat eine gleiche heimat wie die lustvolle / 4839 empfindung der dissonanz in der musik. das dionysische, mit / 4840 seiner selbst am schmerz percipirten urlust, ist der gemeinsame / 4841 geburtsschooss der musik und des tragischen mythus. / 4842 $V00 C0149 L 1 4843 sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die musikrelation / 4844 der dissonanz zu huelfe nahmen, jenes schwierige problem / 4845 der tragischen wirkung wesentlich erleichtert haben. verstehen / 4846 wir doch jetzt, was es heissen will, in der tragoedie zugleich / 4847 schauen zu wollen und sich ueber das schauen hinaus zu sehnen: / 4848 welchen zustand wir in betreff der kuenstlerisch verwendeten / 4849 dissonanz eben so zu charakterisiren haetten, dass wir hoeren / 4850 wollen und ueber das hoeren uns zugleich hinaussehnen. jenes / 4851 streben ins unendliche, der fluegelschlag der sehnsucht, bei / 4852 der hoechsten lust an der deutlich percipirten wirklichkeit, erinnern / 4853 daran, dass wir in beiden zustaenden ein dionysisches / 4854 phaenomen zu erkennen haben, das uns immer von neuem wieder / 4855 das spielende aufbauen und zertruemmern der indiuidualwelt / 4856 als den ausfluss einer urwelt offenbart, in einer aehnlichen weise, / 4857 wie wenn von heraklit dem dunklem die weltbildende kraft / 4858 einem kinde verglichen wird, das spielend steine hin und her / 4859 setzt, sandhaufen aufbaut und wieder einwirft. / 4860 um also die dionysische befaehigung eines volkes richtig / 4861 abzuschaetzen, dverften wir nicht nur an die musik des volkes, / 4862 sondern ebenso nothwendig an den tragischen mythus dieses / 4863 volkes als den zweiten zeugen jener befaehigung zu denken / 4864 haben. es ist nun, bei dieser engsten verwandtschaft zwischen / 4865 musik und mythus, in gleicher weise zu vermuthen dass mit / 4866 einer entartung und deprauation des einen eine verkuemmerung / 4867 der anderen verbunden sein wird: wenn anders in der schwaechung / 4868 des mythus ueberhaupt eine abschwaechung des dionysischen / 4869 vermoegens zum ausdruck kommt. ueber beides dverfte / 4870 uns aber ein blick auf die entwicklung des deutschen wesens nicht / 4871 in zweifel lassen: in der oper wie in dem abstracten charakter / 4872 unseres mythenlosen daseins, in einer zur ergetzlichkeit herabgesunkenen / 4873 kunst wie in einem vom begriff geleiteten leben, / 4874 hatte sich uns jene gleich unkuenstlerische, als am leben zehrende / 4875 natur des sokratischen optimismus enthuellt. zu unserem troste / 4876 aber gab es anzeichen dafuer, dass trotzdem der deutsche geist / 4877 $V00 C0150 L 1 4878 in herrlicher gesundheit, tiefe und dionysischer kraft unzerstoert, / 4879 gleich einem zum schlummer niedergesunknen ritter, in / 4880 einem unzugaenglichen abgrunde ruhe und traeume: aus welchem / 4881 abgrunde zu uns das dionysische lied emporsteigt, um uns zu / 4882 verstehen zu geben, dass dieser deutsche ritter auch jetzt noch / 4883 seinen uralten dionysischen mythus in selig ernsten uisionen / 4884 traeumt. glaube niemand, dass der deutsche geist seine mythische / 4885 heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch / 4886 die vogelstimmen versteht, die von jener heimat erzaehlen. eines / 4887 tages wird er sich wach finden, in aller morgenfrische eines / 4888 ungeheuren schlafes: dann wird er drachen toedten die tueckischen / 4889 zwerge vernichten und bruennhilde erwecken und wotans / 4890 speer selbst wird seinen weg nicht hemmen koennen. / 4891 meine freunde, ihr, die ihr an die dionysische musik glaubt, / 4892 ihr wisst auch, was fuer uns die tragoedie bedeutet. in ihr haben / 4893 wir, wiedergeboren aus der musik, den tragischen mythus / 4894 und in ihm dverft ihr alles hoffen und das schmerzlichste vergessen. / 4895 das schmerzlichste aber ist fuer uns alle die lange / 4896 entwuerdigung, unter der der deutsche genius, entfremdet von / 4897 haus und heimat, im dienst tueckischer zwerge lebte. ihr versteht / 4898 das wort wie ihr auch, zum schluss, meine hoffnungen / 4899 verstehen werdet. / 4900 musik und tragischer mythus sind in gleicher weise ausdruck / 4901 der dionysischen befaehigung eines volkes und voneinander untrennbar. / 4902 beide entstammen einem kunstbereiche, das jenseits / 4903 des apollinischen liegt; beide verklaeren eine region, in deren / 4904 lustaccorden die dissonanz ebenso wie das schreckliche weltbild / 4905 reizvoll verklingt; beide spielen mit dem stachel der unlust, / 4906 ihren ueberaus maechtigen zauberkuensten vertrauend; beide rechtfertigen / 4907 durch dieses spiel die existenz selbst der schlechtesten / 4908 welt. hier zeigt sich das dionysische, an dem apollinischen / 4909 $V00 C0151 L 1 4910 gemessen, als die ewige und urspruengliche kunstgewalt, die ueberhaupt / 4911 die ganze welt der erscheinung ins dasein ruft: in deren / 4912 mitte ein never verklaerungsschein noethig wird, um die belebte / 4913 welt der indiuiduation im leben festzuhalten. koennten wir uns / 4914 eine menschwerdung der dissonanz denken und was ist sonst / 4915 der mensch, so wuerde diese dissonanz, um leben zu koennen, / 4916 eine herrliche illusion brauchen, die ihr einen schoenheitsschleier / 4917 ueber ihr eignes wesen decke. dies ist die wahre kunstabsicht des / 4918 apollo: in dessen namen wir alle jene zahllosen illusionen des / 4919 schoenen scheins zusammenfassen, die in jedem augenblick das / 4920 dasein ueberhaupt lebenswerth machen und zum erleben des / 4921 naechsten augenblicks draengen. / 4922 dabei darf von jenem fundamente aller existenz, von dem / 4923 dionysischen untergrunde der welt, genau nur so uiel dem / 4924 menschlichen indiuiduum ins bewusstsein treten, als von jener / 4925 apollinischen verklaerungskraft wieder ueberwunden werden kann, / 4926 so dass diese beiden kunsttriebe ihre kraefte in strenger wechselseitiger / 4927 proportion, nach dem gesetze ewiger gerechtigkeit, zu / 4928 entfalten genoethigt sind. wo sich die dionysischen maechte so / 4929 ungestuem erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits / 4930 apollo, in eine wolke gehuellt, zu uns herniedergestiegen sein; / 4931 dessen ueppigste schoenheitswirkungen wohl eine naechste generation / 4932 schauen wird. / 4933 dass diese wirkung aber noethig sei, dies wuerde jeder am / 4934 sichersten, durch intuition, nachempfinden, wenn er einmal, sei / 4935 es auch im traume, in eine althellenische existenz sich zurueckversetzt / 4936 fuehlte: im wandeln unter hohen ionischen sauelengaengen, / 4937 aufwaertsblickend zu einem horizont, der durch reine und edle / 4938 linien abgeschnitten ist, neben sich widerspiegelungen seiner / 4939 verklaerten gestalt in leuchtendem marmor, rings um sich feierlich / 4940 schreitende oder zart bewegte menschen, mit harmonisch / 4941 toenenden lauten und rhythmischer gebaerdensprache wuerde / 4942 er nicht, bei diesem fortwaehrenden einstroemen der schoenheit, / 4943 zu apollo die hand erhebend ausrufen muessen: seliges volk / 4944 $V00 C0152 L 1 4945 der hellenen. wie gross muss unter euch dionysus sein, wenn / 4946 der delische gott solche zauber fuer noethig haelt, um euren dithyrambischen / 4947 wahnsinn zu heilen. einem so gestimmten dverfte / 4948 aber ein greiser athener, mit dem erhabenen auge des aeschylus / 4949 zu ihm aufblickend, entgegnen: sage aber auch dies, du wunderlicher / 4950 fremdling: wieuiel musste dies volk leiden, um so schoen / 4951 werden zu koennen. jetzt aber folge mir zur tragoedie und opfere / 4952 mit mir im tempel beider gottheiten. / 4953