Coluccio Salutati, Erörterung über Lucretia. (praef.) Lucretia, Tochter des Spurius Lucretius und Gattin des Collatinus Tarquinus, wurde von Sextus Tarquinius, dem Sohn des Königs Tarquinius, vergewaltigt, wobei sie ihrerseits nur aus Furcht vor übler Nachrede zugestimmt hatte, damit Tarquinius sie nicht, wie er androhte, tötete und dann zu ihr einen erschlagenen Sklaven ins Bett legte. Nachdem sie ihren Vater und ihren Ehemann zu sich gerufen hat, berichtet sie von dem Ereignis. Sie bringt sie dazu, Rache für das erlittene Unrecht zu versprechen, und will sich nun töten. Der Vater und der Gatte verbieten es. (1) Tu dir nichts an, Lucretia. Du hast zur Genüge gewichtige Beweise dafür vorgebracht, daß du nicht einem Ehebruch zugestimmt hast und daß dir Gewalt angetan worden ist. Welche Strafe erwartest du, wenn du etwas aus freien Stücken zur Anklage bringst, was du auch hättest verheimlichen können? (2) Dein bisheriges Leben hilft dir dabei. Denn du hast nicht nur vor den Augen der Menschen, sondern auch privat in den Zimmern des Hauses auf einen maßvollen und keuschen Lebenswandel geachtet. Erinnerst du dich nicht, meine Lucretia? Als wir einige Tage zuvor zusammen mit jenem ruchlosen Ehebrecher zu einem unbefangenen Urteil hierher gekommen waren, fanden wir dich, wie du inmitten deiner Sklavinnen ganz in das Wollespinnen vertieft warst, überrascht, ahnungslos, weder deinen Mann noch einen Gast zu dieser Stunde erwartend. Dieser Tag, jene unvermutete Entdeckung deiner Keuschheit gab dir den Sieg. Die Schwiegertöchter und Töchter des Königs fanden wir, wie sie mit Gelagen beschäftigt waren. Du bist jenen vorgezogen worden, dir wurde der unzerstörbare Ruhm der Keuschheit verschafft. (3) Wir werden das Unrecht an dir rächen, weil du unter Trauer die gewaltsame Umarmung des ruchlosen Jünglings ertragen hast, während jener sich von dir gegen deinen Willen böse Freuden verschaffte. Voller Freude wirst du sehen, wie die königliche Familie ihre verdiente Strafe erhält. Warum willst du, nachdem du dich, da du ja gezwungen wurdest, selbst von abscheulicher Lust freigesprochen hast, mit deinem Tod und mit deinem Blut sein unbeherrschtes Gemüt zufriedenstellen? Ist dir die Grausamkeit des Vaters und die Unersättlichkeit der Söhne etwa nicht zur Genüge bekannt? Dieser da, der deinen Körper geschändet hat, wieviele Morde hat er im Kampf gegen Gabii begangen, wievielen Unschuldige hat er dort eine Falle gestellt? Wenn du ihn persönlich haßt, wenn du wirklich von ganzem Herzen seine Bestrafung wünschst, sorg dafür, daß du lebst; sorg dafür, daß er sieht, wie du dich über seine Bestrafung freust; sorg dafür, daß er, wenn er erkannt hat, daß er verhaßt und verachtet sterben wird, sieht, wie du, dessen Körper er berührt hat, alles mit unbeschadetem Ansehen und lebend überstehst. Lucretia, mach nicht deinen Mann zum Witwer, nimm nicht dem Vater die Tochter und den Kindern die Mutter. Entscheid dich für das Leben, damit du dich bald gerächt sehen kannst. (4) Du hast doch keinen Grund, weswegen du sterben wollen müßtest. Dein Körper ist befleckt, aber deine Seele ist unversehrt. Ohne Zustimmung fällt dir keine Schuld zu. Wer wüßte nicht, daß du ihm keinen Widerstand leisten konntest, nackt, schlafend, ahnungslos und nichts derartiges befürchtend, während der Jüngling bewaffnet und gleichermaßen zu Mord oder Ehebruch bereit war? Mit jener blühenden Jugend und seiner königlichen Macht konnte er jede beliebige andere umschmeicheln und zu lockender Lust verführen, aber deine kühl bleibende Brust konnte er nicht erwärmen. Nur er, und das, obwohl ihr zwei gewesen seid, nur er hat dir Gewalt angetan und an deinem Körper den Ehebruch vollzogen und durchgeführt. Du hast, weil Frauen körperlich schwächer sind, Unrecht erlitten, aber du hast die Keuschheit deines Geistes inmitten des gewaltsamen Beischlafs vollständig bewahrt. Wenn du Ruhm suchst, dann kannst du diesem Ruhm nichts mehr hinzufügen, weil du dich einem liebenden und gierigen Jüngling, während er seine Lust auslebte, nicht als Frau aus Fleisch und Blut, sondern als marmorne Statue dargeboten hast. Füg noch hinzu, teure Lucretia, daß du, als du gezwungenermaßen eingewilligt hast, nicht deinen Tod verhindern wolltest, sondern üble Nachrede. Denn du hast dich dem Tyrannen gegenüber duldsam dargeboten, weil er dir, die er zuvor erschlagen wollte, einen Sklaven, den er töten würde, neben deinem Körper angedroht hatte. (5) Dein Vater und dein Ehemann sprechen dich von jeder Schuld frei. Sei nicht selbst die einzige, die dich wegen einer Schuld verurteilt, von der du frei bist. Indem wir den Tod selbst in die Hand nehmen, verhindern wir normalerweise üble Nachrede, du dagegen zerstörst deinen guten Ruf. Wir beenden ein trauriges Leben, wenn wir uns töten, du dagegen wartest, wenn du jetzt dem Tod schon entgegeneilst, die Freude über die bevorstehende Rache nicht ab. Schließlich sühnen wir, wenn wir Hand an uns legen, normalerweise für irgendein Verbrechen, du dagegen wirst deine Unschuld dadurch zerstören, daß du deinen Tod betreibst. Dein Ehemann, dein Vater, Brutus und die anderen Verwandten, die die dich von jeder Schuld freisprechen, verbieten dir, daß du dich tötest. Warum verwirfst du sogar deren Urteil, indem du dich tötest? Wenn du dich tötest, lädst du die Schuld auf dich, von der du frei bist oder die du verhindern willst. Niemals wird jemand für unschuldig gehalten werden, der sich wie ein Schuldiger selbst bestraft. Zweiter Teil. (6) Verbietet mir nicht das Sterben, so sehr verehrter Vater und Du, mein Gatte, mir einst teurer als das Tageslicht. Solange ich mich nicht getötet habe, wird es niemals eine Garantie dafür geben, daß ich lieber üble Nachrede als den Tod vermeiden wollte. Wer wird jemals glauben, daß jener mich durch den angedrohten Mord des Sklaven erschreckt hat, und daß ich die Schande, zu einem Sklaven gelegt zu werden, die so sehr verdächtig macht, mehr gefürchtet habe als den Tod, wenn ich es nicht durch die Kraft und den Mut bewiesen habe, den das Sterben erfordert? Mir Unglücklicher wird der schändliche Makel der üblen Nachrede anhaften, daß Lucretia lieber als Ehebrecherin hat leben wollen, als keusch zu sterben. Seht ihr etwa nicht, daß ihr mich nicht für das Leben, sondern für die üble Nachrede retten wollt? (7) Kümmert ihr euch um das, was ihr versprochen habt, um das erlittene Unrecht. Macht die Ehebetten wieder unverletzlich. Sorgt dafür, daß eure Rache für eine so große Schandtat den Schlaf der anderen Frauen wieder sicher macht. Wenn ihr dies zu nachlässig tut, wird die Lust zügellos umherziehen, und die römischen Frauen werden nicht nur bei Abwesenheit der Ehemänner, sondern sogar bei der Umarmung der Gatten von der Gewalt schamloser Jünglinge bedrängt werden. Denn welche Frau wird noch sicher sein, nachdem Lucretia vergewaltigt worden ist? (8) Du aber, so sehr geschätzter Gatte, wie wirst du in meine Arme fallen können, wenn du daran denken wirst, daß du nicht deine Gattin, sondern die Hure des Tarquinius in deinen Armen hältst? Und du, so sehr verehrter Vater, wie kannst du mich noch deine Tochter nennen, wenn ich die Keuschheit, die ich unter deiner allerbesten Erziehung von Kindheit an gelernt habe, auf so unglückliche Weise verloren habe und wenn ich so äußerst ungerecht geschändet worden bin? Ich Unglückliche! Kann ich es etwa wagen, meine Kinder anzusehen, wenn ein Ehebrecher den Bauch, der sie geboren hat, niedergedrückt hat? Was, wenn sich sein unheilvoller Samen in meinen Eingeweiden festgesetzt hat? Soll ich etwa warten, bis ich als Ergebnis des Ehebruchs Mutter werde? (9) Stellt mir nicht den Glanz meines vergangenen Lebens vor Augen, denn ich habe einst alles rein und in so vielen Jahren makellos bewahrt. Nun habe ich es in einer Nacht voller Unglück verloren, als ich nicht einen Gast, sondern einen Feind empfangen habe. Mein Leben bereitet mir keine Freude mehr. Ich merke, daß mich mein Streben nach Keuschheit zu einem geeigneten Opfer für ein Unrecht gemacht hat. Der abscheuliche Ehebrecher wollte nicht meine Schönheit, sondern meine Keuschheit erobern. Wenn ich dieses Ergebnis meiner Enthaltsamkeit verloren habe, was bleibt mir als befleckter, geschändeter und ehebrecherischer Frau noch? Nicht, daß ich bloß in den Bordellen eingesperrt werde: Soll ich mich überall und an jedem Ort frei und schändlich zur Prostitution anbieten? (10) Weh mir, wird diese Seele hier etwa unbehelligt und ohne Schuld an der Schandtat bleiben können, zusammen mit diesem geschändeten Körper? Glaubt ihr, daß kein Lustgefühl in dem vergewaltigten Körper ist? Ich werde eine verborgene Schande gestehen! Schon mich, Vater, schon mich, Gatte, und ihr, Götter der keuschen Frauen, habt Nachsicht mit meinen Verfehlungen. Ich habe – ich gestehe – weder eine so große Trauer in meinem Herzen spüren können noch meinen Geist von jener Umarmung so sehr zurückrufen können, daß nicht die Lust der nur schlecht gehorchenden Glieder wieder zurückgekommen ist, aber auch nicht so, daß ich nicht die Reste der Heiratsflamme anerkannt habe. Jene, jene trauerbringende und unwillkommene Lust – was immer es auch sein mag, es bleibt trotzdem Lust – muß mit dem Schwert gerächt werden. Eure Sache jedenfalls, wenn noch etwas von der römischen Gesinnung in euch ist, wird es sein, jenes Verbrechen zu rächen. Es soll auch alles ausgelöscht werden, was in irgendeiner Form Lust empfunden hat. Allzu groß ist die Macht der Venus. Ich will nicht, daß jemals das Bild dieser so großen Schandtat vor meinem geistigen Auge auftaucht. Nichts ist wechselhafter als die Frau. Die Krankheit und Unruhe in meinem Herzen wird die Zeit nicht nur mildern, sondern gänzlich auslöschen. Wenn ich sie dann mit der Zeit abgelegt habe, beginne ich vielleicht, Freude an Schändlichem zu haben. Laßt zu, daß ich diese Brust mit dem Schwert durchbohre, die jener gewalttätig liebte und an der er zuerst meine Brustwarzen festhielt und mit seinen Händen faßte, um seine Lust zu schüren. Fordert mich auch nicht auf, mit mir selbst Mitleid zu haben. Wenn ich meinem Leben Schonung gewähre, gewähre ich sie auch dem Ehebruch. Wenn ich dem Ehebruch Schonung gewähre, gewähre ich sie auch dem Ehebrecher. Und wenn ich sie dem Ehebrecher gewähre, werde ich bald Gefallen am Ehebruch finden, und bald werde ich sogar Gefallen am Ehebrecher finden. Eine schändliche Sache hat angefangen, sich in mir auszubreiten. Hört auf, mir das Sterben zu verbieten, damit sich das, was dort angefangen hat, nicht irgendwann freut, mich endlich ganz zu bestimmen. Ein Verbrechen bleibt niemals auf der Stufe stehen, auf der es begonnen hat. (11) Alle sollen glauben, daß ich nur die üble Nachrede, nicht den Tod gefürchtet habe. Weil ich dies nicht durch Zeugen beweisen kann, werde ich durch mein Blut Sicherheit schaffen. Du, ungeschändete Seele, wirst beim Tribunal des Minos und des Rhadamanthus Zeuge sein für meine makellose Unschuld, und dort wirst du den königlichen Abkömmling dafür anklagen, daß er sich gegen die Keuschheit vergangen und einen Körper befleckt hat. Du aber, irdischer Körper, der du nicht zuletzt wegen deines Aussehens dir selbst zu Grund und Anlaß für den Ehebruch geworden bist, laß die Seele herausfließen, laß das Blut herausfließen unter dem Vorzeichen, daß die Vertreibung des hochmütigen Königs und seines unheilbringenden königlichen Abkömmlings von hier aus ihren Anfang nimmt. Du, einst so geschätzter Gatte, und du, Vater, vor deren Blick ich aus Scham und wegen meines Unglücks gerne fliehe, und ihr, meine Freunde, lebt wohl. Und betreibt die Rache, die ihr gelobt habt, nicht weniger tatkräftig als ich nun meinen Tod ins Werk setzen werde. Keiner römischen Frau soll es nach dieser beispielhaften Handlung der Lucretia möglich sein, sich einzureden, daß ihr ein unkeusches Leben erlaubt sein wird. Amen.